Bevor Sie sich diesem Artikel widmen, empfehle ich, die ersten beiden Teile (Teil 1 und Teil 2) zu lesen. In dieser Reihe geht es um die frei erfundene Lara, die von der Kita bis zum Abschluss der Schule von Menschen umgeben ist, die sich mit den Leitlinien und Ideen der element-i Konzeption identifizieren und diese als Orientierung für das eigene Handeln nutzen. Sie werden in den Texten Begriffe aus der element-i Konzeption wiederfinden. Ich versuche so, einen Bogen zwischen der Theorie und Praxis herzustellen.
Veränderungen bergen Herausforderungen und Chancen
Lara ist mittlerweile 6 Jahre alt, und dieses 6. Lebensjahr war für sie ein Jahr voller Herausforderungen … Der für sie so gewohnte Rahmen veränderte sich stark. Der Rahmen, den sie bisher kennengelernt hat, ist eng mit ihren Eltern verknüpft, zu denen sie eine innige und intensive Beziehung hat (Erziehungsstil: authentisch, dialogisch, kohärent). Die Beziehung zu ihrem Vater ist besonders eng. Von außen betrachtet würde man sagen, Lara sei ein „Papa-Kind“. In den ersten Jahren ihres Kita-Lebens holte er sie täglich um 14:00 Uhr von der Kita ab (Leitlinie Gesundheit: Ich kann, was ich tue, ich verstehe, was geschieht. Ich finde richtig und wichtig, was ich tue”). Das ist nun nicht mehr möglich. Seine neue Stelle bringt andere Arbeitszeiten und Reisen mit sich. Mittlerweile bringt die Mutter Lara zu Bett. Das war zuvor die „Papazeit“: Geschichten erfinden, raufen, vorlesen, Quatsch machen. War das Umziehen bei Papa in Rekordzeit erledigt, dauert es bei Mama scheinbar ewig. „Papazeit“ bedeutet Zweisamkeit, Gemeinsamkeit, Verbundensein. Die Zeit, die dem Vater am Wochenende weiter zur Verfügung steht, nutzt er, um seiner Tochter nahe zu sein. Ob es das Begutachten einer neuen Baustelle im Ortskern ist, gemeinsames Kochen oder einfach zu Hause gemeinsam zu spielen (Leitlinie Autonomie: Ich tue, was ich will, und ich will, was ich tue) – Lara genießt die Zeit zu Hause fern von Kita, Sportkursen, Einkäufen und Besuchen bei Freunden. Mit den Veränderungen, die die neue Arbeitsstelle des Vaters mit sich brachte, kam Lara gut zurecht. Doch dann eröffnete die Eltern eines Tages beim Abendessen, dass sie bald umziehen (Resilienz: Ich tue, was mithilft, mich schützt und stärkt. Ich tue, was nötig ist und mute es mir auch zu”).
Lara wirkte zunächst entspannt und fragte nur „Wohin?“. Sie konnte die Dimension der Entscheidung ihrer Eltern zunächst nicht erfassen. Erst im Dialog entstand ein Verständnis für die Situation. Lara verstand nun, dass sie ihre beiden besten Freundinnen Leni und Elena verlassen muss. Laras Grundstimmung veränderte sich schlagartig, sie war ungehalten. Ihre Eltern versuchten, diese Emotionen zu deuten. War es Trauer? Wut? Verzweiflung? Ihre Eltern nahmen wahr, dass Lara einen Moment für sich brauchte (Sichern und freigeben), und signalisierten, dass Laras Verhalten okay sei und sie für sie da sind. Fremdbestimmtheit kannte Lara in dieser Form nicht. Das stellten auch ihre Eltern fest. Selten hatte Lara derartigen Kontrollverlust und Ohnmachtsgefühle verspürt, vielleicht sogar nie zuvor. Bei allen größeren Entscheidungen war sie eingebunden und konnte mitentscheiden. Dieses Mal nicht. Lara war tieftraurig. Sie nahm sich ihr Lieblingskuscheltier „Emmi“ und lief, etwas zusammengekauert, in ihr Zimmer. Es war bereits 19:00 Uhr, Schlafenszeit. Ihre Mama klopfte an die Tür. Als sie keine Geräusche hörte, kuschelte sie sich zu ihrer Tochter und merkte, wie sie sich an sie drückte und schließlich wortlos einschlief. (Leitlinie Verbundenheit: Ich tue, was ich zugesagt habe).
Der Umzug nach einigen Monaten hat problemlos funktioniert, und Lara freute sich auf ihr „supercooles“ neues Zimmer, das zwei Ebenen hat, die mit einer Leiter verbunden sind. Die Familie kam gut im neuen Heim an. Und die nächste große Veränderung stand bereits unmittelbar bevor: die Einschulung.
Transitionen als Chance
Laras Eltern fragten sich, ob sie die richtige Entscheidung getroffen haben, so kurz vor der Einschulung umzuziehen. Wie wird Lara sich in der Schule zurechtfinden? Findet sie Anschluss bei den Kindern ihrer Klasse? Laras Eltern schienen aufgeregter zu sein als Lara. Doch schnell stellte sich heraus: Lara fand neue Freunde und Freundinnen. Alles wirkte wie immer. Laras Eltern waren nur kurzzeitig unsicher, erinnerten sich dann an das letzte Gespräch in der alten Kita, dem Energiebündel. Der Pädagoge Maurice hatte im Abschlussgespräch deutlich gemacht, dass die Eltern sich bezüglich der Einschulung in einer für Lara komplett fremden Umgebung keine Sorgen machen müssten. Lara sei gut für die Schule vorbereitet. Was machte ihn da so sicher? Er erzählte:
„In der Kita war sie von vielen Freunden umgeben, sie war in der Lage, Kontakte zu knüpfen, war hilfsbereit, hatte tolle Impulsvorschläge, konnte sich bei für sie interessanten Bildungsangeboten lange konzentrieren. Sie kann ihre Emotionen (fast) immer regulieren und kümmerte sich rührend um die Jüngsten im Nestbereich. Lara nannte es „nach den Kleinen schauen, ob alles okay ist“. Bei Konflikten blieb sie standhaft und pochte wortgewandt auf Gerechtigkeit. Sie ist immer in der Lage gewesen, für sich und die anderen einzustehen.“
Welche Kompetenzen helfen beim Schulstart?
Laras Eltern waren verwundert, dass Maurice kaum über Laras kognitive Fähigkeiten sprach. Er legte den Fokus in Bezug auf Schulfähigkeit auf „Lebenskompetenzen“, die es den Kindern ermöglichen, in einem neuen sozialen Feld Fuß zu fassen. Die Schule ist ein sozialer Ort, an welchem Begegnungen stattfinden, Freundschaften geschlossen werden, Konflikte entstehen und gemeinsam an Zielen gearbeitet wird. Die sozialen und emotionalen Ressourcen sind ein wesentlicher Faktor für Schulerfolg (vgl. Schneider/Hasselhorn 2018, S. 214).
Die Einschulung stand an. Ein aufregender Moment für Lara. Alle waren gekommen: die Eltern, Großeltern, Cousinen … Die Familie war beisammen, und alle freuten sich für Lara. Lara genießt den Moment, der sie am Abend zuvor kaum einschlafen ließ. Im Hof vor der Schule versammelten sich die Familien und folgten gespannt der Zeremonie. Dazu gehört auch die Aufteilung in die Schulklassen. Ein besonderer und für viele Kinder herausfordernder Moment. Lara ist eine Schülerin der Klasse 1-4 A. Nach und nach wurden die Schüler:innen der Klasse aufgerufen, sollten sich auf der Bühne versammeln und anschließend ins Klassenzimmer gehen. Für Anna, Ben, Cleandra, David-John, Erol und Fiona war dies ein gut zu bewältigender Schritt. Doch Georg brach in Tränen aus und weigerte sich, die Bühne zu betreten. Tränen kullerten über seine Wangen, er umklammerte seine Mama. Laras Mama erklärte, dass die Kinder nach und nach aufgerufen werden und Lara abwarten solle, bis ihr Name aufgerufen wird (authentisch, dialogisch, kohärent). Weitere Namen wurden aufgerufen. Henriette, Imam, Julia, Karlo – und dann endlich: Lara. Ihr Vater lächelte ihr zu, sie schritt zügig voran und positionierte sich neben ihrer zukünftigen Lehrerin. Frau Lemberger, eine 33-jährige Frau, hieß jedes Kind mit einem aufrichtigen, warmherzigen Lächeln und einem sanften Nicken in der Runde willkommen. Voller Stolz beobachteten Laras Eltern die Mimik und Gestik ihrer Tochter. Immer wieder lächelte sie ihren Eltern zu und wirkte dabei entspannt, beobachtete, wie die Gruppe zunehmend wuchs. Während dieser Szene erinnerte sich Laras Vater an Stationen in Laras bisherigem Leben: Als Lara drei Jahre alt war, wurde die Geschichte „Es klopft bei Wanja in der Nacht“ von den Kindern aufgeführt. Lara erzählte damals, dass sie der Bär sein wollte und diese Rolle auch übernahm. Sie wirkte selbstbewusst, fokussiert, stark und lebendig. Diese Rolle füllte sie mit großer Selbstverständlichkeit aus. Und den selbstbewussten Gang, den Lara als Bärin beim Betreten des Hauses vor Jahren zeigte, hatte sie beibehalten, als sie zur neuen Lehrerin auf die Bühne lief. Was für eine wundervolle Persönlichkeit seine Tochter doch ist, dachte er bei sich. Waren die Eltern für diese Entwicklung verantwortlich? Die Kita? Ist es ihre angeborene Persönlichkeit? Wahrscheinlich von allem etwas.
Was sagt die Wissenschaft?
Die Wissenschaft gibt Aufschlüsse darüber, wie Persönlichkeitseigenschaften entstehen und sich in Folge auch entfalten. Unter anderem wurde in Zwillingsstudien festgestellt, dass 40-50% der Persönlichkeitseigenschaften genetisch determiniert sind. Das erklärt auch, warum besonders Zwillinge, aber auch Geschwister, die in vergleichbarer Umgebung und unter vergleichbaren Bedingungen aufgewachsen sind, unterschiedliche Persönlichkeitseigenschaften haben. Der Einfluss der Umwelt, wie etwa Familie, Sozialraum, Kita, Freunde und Freundinnen, Vorbilder etc., ist für die Entwicklung maßgeblich. Erst durch Bindungen, Beziehungen, Erziehung ist es dem Kind möglich zu einer gesellschaftsfähigen Person heranzureifen (Kandler et al 2018, S. 195ff.).
Lara gefällt es außerordentlich gut in der Schule. Sie hat mit Geraldine und Leroy bereits Freundschaft geschlossen. Die von den Eltern ausgewählte Schule setzt auf jahrgangsübergreifendes Lernen und das Erwerben von Lebenskompetenzen.
Literatur
Kandler, C., Richter, J., & Zapko – Willmes, A. (2018). The Nature and Nurture of Hexaco Personality Trait Differences – An Extended Twin Family Study. Göttingen: Hofgrefe Verlag
Schneider, W., & Hasselhorn, M. (2018). Schuleingagnsdiagnostik. In Tests und Trends Jahrbuch der pädagogisch-psychologischen Diagnostik (S. 211-214). Göttingen: Hofgrefe