Es gibt viele Methoden kreative Gedanken zu fassen und das nicht nur im Kunstunterricht. Da gibt es Brainstormings und Mindmaps, Vision Boards und Wortwolken – oder auch ein ganz simpler Tipp, der bei Schreibblockaden tatsächlich wunderbar funktioniert: einfach anfangen.
Stephen King zum Beispiel arbeitet nach einem festen Terminplan und setzt sich jeden Tag acht Stunden an seinen Schreibtisch und schreibt. Für ihn mag das funktionieren, aber neben Kreativität braucht es da eiserne Disziplin und eine ziemliche Kontrolle über den inneren Schweinehund. Um die kreative Praxis etwas leichtfüßiger zu gestalten und damit auch eine der absoluten Zukunftskompetenzen näher in den Blick zu rücken, betrachtet dieser Artikel Kreativität mal aus einem anderen Blickwinkel.
Night Science: Kreativität im Dunklen?
Starten wir doch mit einem Experiment: Schauen Sie sich auf YouTube das Video „selective attention test“ des Forschers Daniel Simmons einmal an (https://www.youtube.com/watch?v=vJG698U2Mvo) und zählen Sie aufmerksam, wie oft das weiße Team den Basketball zwischen den Spieler:innen hin und her passt.
Haben Sie aufmerksam mitgezählt? Was ist Ihnen sonst so aufgefallen? Hier gibt es oft hochkreative Antworten, z.B. über die Frisuren der Spieler:innen, den ungewöhnlich anmutenden Ort für ein Basketball-Match usw. Aber es war auch ein Gorilla im Raum. Den sieht gut die Hälfte der Zuschauer nicht. Was genau hat das jetzt mit Kreativitätsförderung zu tun?
In der Wissenschaft existiert der Begriff „Night Science“. Damit gemeint ist die, im Gegensatz zur „Day Science“, nicht stringent formalisierte und oft eher im Verborgenen stattfindende Seite der Wissenschaft, in der man exotische Theorien formuliert, versteckten Zusammenhängen intuitiv auf den Grund geht und einfach mal wild fabulieren darf. Hierin stecken, wie von den beiden Professoren Itai Yanai und Martin Lercher in Vorträgen beschrieben, Kompetenzen und Methoden, die auch das kreative Denken im Alltag sowie im schulischen Kontext fördern können.
Man hat beispielsweise erkannt – und hier kommt wieder der Gorilla ins Spiel –, dass der Fokus auf ein bestimmtes Ziel uns blind macht für viele andere Dinge darum herum. So hat ein weiterer Versuch gezeigt: Gibt man Student:innen einen Datensatz und fragt sie lediglich, was man daraus lesen könnte, entdecken sie deutlich mehr Zusammenhänge als die Vergleichsgruppe, mit demselben Datensatz, verbunden mit der Aufgabe, einen bestimmten Zusammenhang zu untersuchen.
Kreativer Freiraum im Schulkontext
Übertragen auf die Schule spricht das dafür, den Schüler:innen Zeiten einzuräumen, in denen sie Themen, Ideen und Herausforderungen ganz ungeregelt nachgehen können, wo sie sich an dem aufhalten können, was sie wirklich interessiert, und Perspektiven finden, die sie inspirieren. Pädagogische Fachkräfte tun gut daran, bei einer Aufgabe den Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit zu geben, darin eine Relevanz für ihr echtes Leben zu sehen, und daran zu glauben, dass die Schüler:innen ihren eigenen Weg zu einer Lösung finden werden.
Ein weiterer Trick, eine solche Lösung zu finden, leitet sich aus der Neuropsychologie ab. Da in der menschlichen Evolution die soziale Gruppe der wichtigste Überlebensfaktor war, ist unser Gehirn eher dazu in der Lage Zusammenhänge herzustellen, wenn diese soziale Relevanz besitzen. Es ist also deutlich einfacher zu fragen: „Warum hat Cäsar das gemacht? Was hat er sich davon versprochen?“, als stur Jahreszahlen auswendig zu lernen.
Zwei sind besser als einer
Diese Verstehensstrategie lässt sich auch in Bereichen, in denen die Intention keine Rolle spielt, nutzen. Arbeitet man zusammen, entsteht sogar noch mehr Kreativität. Denn laut aktuellem Forschungsstand liegt die perfekte Gruppengröße für Inspiration bei zwei Personen. Wenn zwei miteinander sprechen, sich aufeinander konzentrieren und ein gemeinsames Thema haben, entdecken sie viel am anderen. In größeren Gruppen werden oft nur wenige gehört und in Kleingruppen verläuft die Arbeitsteilung meist nach festen Mustern.
In Tandems bleiben die Verantwortung und somit die Selbstwirksamkeit klar erkennbar. Mimik und Körpersprache geben unmittelbares, ungeschöntes Feedback, Rückfragen führen zu einem vertieften Verständnis auf beiden Seiten. Am vielversprechendsten ist es sogar, wenn das Gegenüber die erste Lösung anzweifelt, denn das macht die Hürden des ersten Entwurfs deutlich und ermöglicht so eine Weiterentwicklung der Lösung.
Improvisieren beim Studieren
Für dieses Vorankommen ist eine Technik aus dem Improvisationstheater hilfreich. Dort gibt es kein Skript, und alles ist erlaubt – alles bis auf ein einziges Wort: Nein ist verboten. Stattdessen nutzen die Schauspieler:innen die Phrase „Ja, und…“. Damit akzeptieren sie die Situationen, wie sie sind, nehmen die Perspektiven der anderen unvoreingenommen an und bauen darauf auf.
Ein Beispiel: Maria sagt: „Da steht ein rosa Elefant!“ Edin überlegt, denn er hatte ursprünglich an etwas völlig anderes gedacht. Ein Nein gilt nicht, also antwortet er: „Ja, im Sonnenuntergang scheint die Haut ganz rosa und ein bisschen orange. Woran das wohl liegt?“
Es gibt keine schlechten Ideen, nur solche, die noch nicht zu Ende gedacht sind. Mit dieser Einstellung der Ermöglichung erweitert man nicht nur den persönlichen Horizont, sondern entwickelt auch eine positive Fehlerkultur. Man agiert aus einem „growth mindset“, der unbedingten Überzeugung mit allem einmal klein anzufangen und am Prozess zu wachsen. So kann man auch im Unterricht improvisieren: Was wäre, wenn die Geschichte ganz anders passiert wäre? Welche Welt wird möglich, wenn wir in Naturwissenschaft imaginierte Maschinen bauen, die das Klima steuern oder in Informatik unser Lernen neu programmieren? Was passiert wohl, wenn es einen Tag lang keine falschen Antworten mehr gibt? Und was, wenn das eine ganze Schulzeit so bleibt? Einen Gedanken ist es in jedem Fall wert!