Erwachsene – Eltern und pädagogische Fachkräfte gleichermaßen – machen sich viele Gedanken darüber, was sie Kindern bieten können. Sie sollen in den Genuss vielfältiger Bildungsangebote, spannender Aktionen, bereichernder Impulse und geselliger Feste kommen – damit sie viel erleben, dabei lernen, Spaß haben und gemäß ihren Interessen gefördert werden. Hört sich gut an, oder? Das ist es auch. Kinder brauchen eine anregende Umwelt und Erwachsene, die ein solches Umfeld für sie schaffen.
Kinder zu Mitgestaltern machen
Ich denke, die Fragen, die wir uns in diesem Zusammenhang stellen dürfen, lauten: Was zeichnet eine anregende Umwelt für Kinder aus? Und wer darf sie mitgestalten?
Wenn wir den Fokus zu sehr darauf lenken, dass wir Erwachsenen diese Welt prägen, nehmen wir Kindern die Möglichkeit, Mitgestalter zu sein. Wenn wir quasi alles für unsere Kinder vorbereiten und versuchen, sie ständig zu beschäftigen, können unsere Kinder dann noch selbst wahrnehmen und spüren, was sie brauchen? Können sie dann noch kreativ werden?
Für uns Erwachsene ist es in der Regel einfacher, Kindern eine Beschäftigung zu bieten. Und oft ist dies auch sinnvoll. Die Kinder haben dann idealerweise Freude am Tun, sind absorbiert und lernen meist etwas dabei. Ihre Emotionen sind besänftigt, und alle scheinen zufrieden zu sein.
Langeweile als Chance
Was passiert dagegen, wenn Kinder Langeweile haben? Sie fangen an zu nörgeln. Emotionen kochen hoch. Davon sind wir Erwachsenen schnell genervt. Warum also sollten wir Langeweile zulassen?
Dafür gibt es gute Gründe: In der Langeweile besteht die Chance, sich und seine Gefühle zu spüren. Ständige Ablenkung übertönt oft unsere Gefühlswelt. Wenn wir still werden und anfangen, uns selbst zu fühlen, lernen wir uns besser kennen. Wir lernen, Emotionen auszuhalten und sie nicht wegzudrücken. Langeweile lehrt uns, uns mit uns selbst zu beschäftigen, kreativ zu werden und Neues auszuprobieren. Dabei können wir ungeahnte Potenziale in uns entdecken – gerade weil uns keiner etwas vorgibt, sondern weil wir dazu gedrängt sind, unsere eigenen Fähigkeiten und Ideen zu nutzen. Langeweile kann daher helfen, unseren Erfindergeist zu aktivieren, den konstruktiven Umgang mit Gefühlen zu lernen und unser Selbstwertgefühl zu steigern. Es lohnt sich daher, manchmal die Langeweile des Kindes auszuhalten. So geben wir seinen kreativen Möglichkeiten Raum.
Das ist nicht ganz einfach, denn wir Erwachsenen benötigen Gelassenheit, um Kinder entspannt dabei unterstützen zu können, ihre eigenen Emotionen zu fühlen, sie zu entdecken und sie in manchen Fällen auch wieder zu regulieren.
So funktioniert’s in der Praxis
Schauen wir uns zwei Beispiele für eine Nachmittagsgestaltung an:
Sie holen Ihr Kind um 15:00 Uhr von der Kita ab. Zuerst geht es zum Sport, dann zum Abendessen nach Hause. Um 19:00 Uhr darf Ihr Kind noch 15 Minuten eine Kinderserie schauen. Danach geht es ins Bett und der Tag endet.
Was hat Ihr Kind erfahren und gelernt? Im Sport hat es sicherlich gelernt, die eigenen Kräfte einzusetzen. Es hat gelernt, auf andere Rücksicht zu nehmen, und motorische Kompetenzen dazugewonnen. Beim Abendessen erlebte Ihr Kind ein entspanntes und schönes Zusammensein, konnte vielleicht von Ereignissen des Tages berichten und fühlte sich ernstgenommen und zugehörig. Die Serie gab allen eine kurze Verschnaufpause und Ihnen das Gefühl, dem Wunsch des Kindes zu entsprechen.
Ein Nachmittag könnte aber auch so aussehen – und jetzt kommt die Langeweile ins Spiel: Sie holen Ihr Kind um 15 Uhr ab und gehen spazieren, nach Hause oder in den Wald. Sie haben nichts vorbereitet – außer vielleicht einen kleinen Snack. Ihrem Kind wird es langweilig. Eventuell fängt es an zu nörgeln und verlangt Action. Wenn Ihr Kind Langeweile nicht gewohnt ist, müssen Sie sicherlich einige Male die damit einhergehenden Emotionen – Wut, Missmut und Anspannung – mit ihm aushalten. Ihr Kind erlebt dabei, dass durch sein Nörgeln nicht viel passiert – Sie schalten nicht den Fernseher ein, Sie gehen nicht mit ihm Eisessen, Sie denken sich kein Unterhaltungsprogramm aus.
Eine erstaunliche Verwandlung
Daraufhin wird sich Ihr Kind mit der Situation arrangieren – und dann passiert etwas Fantastisches: Ihr Kind fängt an, mit allen Sinnen auf die Umgebung zu achten, es wird aufmerksam. Es hört einen Vogel, sieht ein paar Äste auf dem Boden, riecht die Blumen und fängt an, sich mit der Umwelt zu verbinden. Und genau in diesem Augenblick hört die Langeweile auf. Die Freude setzt sein und die Motivation auf Entdeckungsreise zu gehen. Die Äste werden plötzlich zu Flugzeugen, der Rasen ist nun nicht mehr langweilig, sondern bunt und vielfältig. Und schon beginnt ein Spiel, bei dem Ihr Kind eine Menge lernt. Es lernt, still zu werden, zu lauschen, offen zu sein für Neues, zuzuhören, kreativ zu werden, Ideen zu entwickeln und seine eigenen Fähigkeiten zu erspüren und sie zu erleben. Und sind es nicht genau diese Kompetenzen, die unsere Welt braucht?
Fazit
Ich denke nicht, dass Kinder nur einen Alltag voller Langeweile erleben sollten. Auch im Sport oder bei anderen geplanten Aktivitäten lernen Kinder eine Menge. Ich denke, beides ist nötig. Kinder sollten eine Welt erleben, die für sie anregend und vielfältig vorbereitet ist. Sie brauchen jedoch auch eine Welt, in der sie selbst eine Menge entdecken und ganz individuell ihre eigenen Kompetenzen erleben und einbringen können – und dafür kann Langeweile ein guter Impulsgeber sein!