Was ist Hochsensibilität?

Der Begriff „high sensitive person“ (kurz: HSP) wurde in den 1990er Jahren von der amerikanischen Psychologin Elaine N. Aron geprägt. Sie beschrieb Grundstrukturen der Hochsensibilität, die heute (in den USA) als eigenständiges Persönlichkeitsmerkmal wissenschaftlich anerkannt sind. Sie fand heraus, dass die Wahrnehmungen der HSP detailreicher sind als die anderer Personen und eine tiefere Verarbeitung der Eindrücke stattfindet. Auch der natürliche Wahrnehmungsfilter ist – laut Aron – bei hochsensiblen Personen weniger ausgeprägt.

Hochsensibilität ist eine Veranlagung, die etwa 20% der Bevölkerung betrifft. Sie ist nach heutigem Wissensstand überwiegend angeboren, wird meist vererbt oder kann laut Persönlichkeitspsychologie durch traumatische Erlebnisse erworben werden. Hochsensibilität äußert sich von Geburt an und kann nicht willentlich geändert werden. Eine allgemeingültige Definition der Hochsensibilität gibt es zurzeit nicht. Sicher ist nur, dass es sich nicht um eine Krankheit, sondern um eine Wahrnehmungsbegabung handelt.

Die Tendenz zur Überstimulation mit unterschiedlichen körperlichen und psychologischen Symptomen (z.B. Überreiztheit, Nervosität oder erhöhter Puls) kann als die allgemeingültigste Gemeinsamkeit aller HSP benannt werden. Neben Elaine N. Aron erforschten auch andere Wissenschaftler die Hochsensibilität: der Psychoanalytiker C. G. Jung (1875–1961), der Neurologe und Physiologe Ivan Pawlow (1849–1936) sowie der Psychologe Jerome Kagan (1929–2021).

Merkmale hochsensibler Menschen

Hochsensible Menschen können eine Auswahl der untenstehenden Merkmale auf sich vereinen, die nicht alle gleichermaßen auftreten müssen. Dabei ist die folgende Liste an sich nicht vollständig: 

  • sehr feine, detaillierte Wahrnehmung (z.B. Geräusche, Luftqualität, optische Eindrücke) 
  • lebhafte Vorstellungskraft 
  • das Streben nach Vollkommenheit 
  • erhöhte körperliche Empfindlichkeit
  • subtile Wahrnehmung der inneren Welt (eigene und der der anderen), manchmal außersinnliche Wahrnehmungen
  • Lernfähigkeit bis ins hohe Alter
  • gute Fähigkeit zum Zuhören
  • Empfindlichkeit bei Druck, Hitze, Kälte
  • verstärkte Reaktion auf Substanzen wie Medikamente und Alkohol
  • ausgeprägte Intuition
  • enorme Gewissenhaftigkeit
  • ausgeprägter Ethik- und Gerechtigkeitssinn
  • Reflexion der eigenen Gedanken (Sie denken über das Denken nach)

Typologie hochsensibler Personen

Hochsensibilität ist nur ein Oberbegriff über die zu differenzierende Typologie der HSP, denn nicht alle HSP sind gleich. Es gibt Unterscheidungen der Charaktere sowohl in den Vorlieben als auch in den Stärken, im Arbeitsstil und in der Stressverarbeitung. Die Charakter-Typologie geht auf den Psychologen C. G. Jung zurück. Jung war der Ansicht, menschliches Verhalten sei nichts Zufälliges und ist somit klassifizierbar. Unterschiedliches Verhalten resultiere aus verschiedenen Präferenzen der Menschen, die schon früh im Leben festgelegt werden bzw. teilweise angeboren sind. Sie bilden die Grundlage unserer Persönlichkeit. Nach Jung gibt es acht Präferenzmodelle, d. h. acht verschiedene psychologische Typen, deren Kombination den Charakter des Menschen prägt und über wissenschaftlich fundierte Persönlichkeitstests ermittelbar ist.

Hochsensibilität im sozialen Umfeld

Jeder Mensch ist anders, aber wir gehen sehr oft davon aus, dass alle anderen auf die gleiche Weise empfinden und wahrnehmen wie wir selbst. Wir wundern uns darüber, dass die Mitmenschen dann doch ganz anders „ticken“. HSP stoßen oft auf Unverständnis – für ihr Handeln und ihr „So-Sein“ – und stellen ihre Wesensart sehr häufig infrage. Aussagen wie: „Stell´ dich nicht so an!“, „Sei nicht so empfindlich!“ oder „Was du wieder hast!“ sind ihnen äußerst vertraut. Nicht-HSP haben dafür hingegen wenig Anlass, sich in Frage zu stellen, weil sie sich als konform mit der Mehrheit der Menschen empfinden. Demzufolge halten sie sich für normal. Im Umkehrschluss wird die HSP häufig als „unnormal“ wahrgenommen. Doch Hochsensibilität ist nicht gleichzusetzen mit introvertiert, ängstlich oder wenig sozialisiert zu sein.  

Es gibt unterschiedliche Ausprägungen der Hochsensibilität. Z.B. gibt es die High Sensation Seeker (HSS), die hochsensiblen Abenteurer. Sie suchen Herausforderungen und kommen kaum zur Ruhe. Sie zeigen wenig Angst, sind unternehmungslustig und aufgeschlossen gegenüber Neuem. Ihr extrovertiertes, aktives Verhalten lässt sie schnell die eigenen Grenzen überschreiten. Sie werden müde und spüren eher spät oder zu spät, dass sie sich in Gefahr bringen können, weil sie erschöpft sind. Die Folge kann sein, dass sie sich unverstanden fühlen, jedoch nicht mit Rückzug reagieren. Sie sind auf der Suche nach dem nächsten Kick und wollen alles Neue unbedingt ausprobieren.

Hochsensibel im Beruf

Auch HSP haben die gleiche Arbeitsumgebung wie ihre Nicht-HSP-Kollegen. Sie erleben diese nur mit erheblich mehr Reizen. HSP gehen perfektionistisch an ihre Aufgaben heran und stellen an sich selbst sehr hohe oder überhöhte Ansprüche. Sie wollen die (vermeintlichen) Erwartungen anderer unbedingt erfüllen, tun sich schwer mit Nein-Sagen und Sich-Abgrenzen und wollen unbedingt mit anderen Schritt halten. Dabei nehmen sie Eindrücke intensiver wahr und verarbeiten diese länger. Während des Noch-Verarbeitens nehmen sie neue Eindrücke auf, die wiederum verarbeitet werden müssen. Dadurch geraten HSP früher in einen Ermüdungszustand, was häufig am Übergang von Kurzzeit- zu Langzeitstress sowie an den entsprechenden hormonellen Reaktionen (Adrenalin, Cortisol) liegt. Hochsensible Menschen sollten unbedingt auf sich Acht geben und auf ihr sensibles Wesen Rücksicht nehmen. Das heißt jedoch nicht, dass sie Herausforderungen vermeiden sollten, denn ihr Talent ist wertvoll.

Was bedeutet Hochsensibilität in der pädagogischen Arbeit?

Hochsensible Kinder (HSK) kämpfen im Alltag häufig mit besonderen Herausforderungen. Das Erkennen von Signalen und Verhalten, wie z.B. die Empfindlichkeit auf bestimmte Textilien oder Geräusche, kann der erzieherischen Person helfen, dem Kind eine passende Umgebung zu ermöglichen. HSK benötigen meist mehr Zeit für die Verarbeitung ihrer Lernimpulse. Rückzugsorte, in denen auch Ruhephasen möglich sind, wirken einer Überstimulation entgegen. Die größten Stärken von HSK sind ihr Mitgefühl, ihre hohe Intuition und das Erkennen von Stimmungen. Aufgrund ihrer Empathie haben sie eine Abneigung gegen Gewalt und setzen sich oft für Schwächere ein.  

Nicht nur Laien verwechseln Hochsensibilität leider häufig mit den Krankheitsbildern AD(H)S oder dem Asperger-Syndrom. Eine HSP kann Emotionen fühlen, tiefe Gefühle entwickeln und eine starke Empathie zeigen. Eine Person mit der Diagnose AD(H)S besitzt ein intensives, impulsives Gefühlsleben, fühlt sich schnell verletzt, ungerecht behandelt und erträgt keine Langeweile. Personen mit dem Asperger-Syndrom besitzen eine mangelnde Empathie, sind emotional verletzbarer und wirken eher rational. Wer Hochsensibilität erkennt, kann seinem Gegenüber eine gewinnbringende Unterstützung in der Entwicklung und im Alltag sein.

Mehr von Barbara Schmieder

Literatur 

Aron, Elaine N. (2019): Das hochsensible Kind – Wie Sie auf die besonderen Schwächen und Bedürfnisse Ihres Kindes eingehen. 9. Auflage. mvg: München 

Aron, Elaine N. (2021): Sind Sie hochsensibel? Wie Sie Ihre Empfindsamkeit erkennen, verstehen und nutzen. 15. Auflage. mvg: München

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