Denkste?! – Kognitive Perspektivübernahme in der Kita

Silke wünscht sich zum Geburtstag eine Überraschungsparty. Sie denkt, dass Martin ihren Wunsch ahnt. Und Martin vermutet, dass seine Freundin das „richtige“ Geschenk zu bekommen hofft. Aber weiß er auch, was sie sich wünscht? Erwachsene sind in der Lage, Vermutungen anzustellen über das, was andere denken, wissen, hoffen, planen oder mögen. Diesen „Prozess, die mentalen Zustände Anderer zu erschließen und über sie nachzudenken“ (Böckler-Rettig 2019, S. 11) nennt man kognitive Perspektivübernahme oder Theory of Mind. Ist diese Kompetenz bereits im Kindergartenalter vorhanden? Und lässt sie sich einüben?

Perspektivübernahme ist ein komplexer Vorgang

Mit Hilfe eines medizinischen Diagnostikverfahrens hat man herausgefunden, dass unterschiedliche Areale im Hirn bei der Bearbeitung von Aufgaben rund um die kognitive Perspektivenübernahme aktiv sind. Daraus kann man schließen, dass es sich bei dieser Kompetenz um einen komplexen geistigen Vorgang handelt. Zum Beispiel gehören dazu die folgenden Teilleistungen, für die jeweils unterschiedliche Hirnareale zuständig sind:

  • eigene Zustände und die anderer auseinanderhalten (self/other distiction),
  • anderen Menschen stabile Persönlichkeitsmerkmale zuschreiben, was wir mit Hilfe von Lebenserfahrungen und unserem autobiografischen Gedächtnis leisten,
  • sich in andere hinein versetzen zu können, womit eine kognitive Flexibilität einhergeht (mental imagery),
  • Handlungen anderer deuten und damit dieses Wissen verarbeiten zu können und schließlich
  • den Kontext berücksichtigen, in dem man sich befindet, und unterscheiden, was für welches Setting angemessen zu sein scheint (vgl. ebd., S. 19f.).

Kompetenzen von Kindern im Forschungskontext ermitteln

Es existieren unterschiedliche Aufgaben, mit denen man ermittelt, ob die jeweilige Testperson oder Proband*in Perspektiven anderer übernehmen kann. Anders ausgedrückt: ob die Person eine Theory of Mind erworben hat. Besonders bekannt sind die folgenden Aufgaben, deren Versuchsaufbau so gestaltet ist: Sally hat eine Murmel, die sie in eine grüne Box legt. Während Sally nicht im Zimmer ist, legt die Mutter die Murmel in eine andere Box – eine blaue Box. Sally kommt zurück und sucht nach der Murmel. Wo wird sie zuerst schauen?, wird die Proband*in gefragt.

Die meisten 3-jährigen scheitern an der Aufgabe. Sie können ihr (richtiges) Wissen, dass die Murmel nun in der blauen Box liegt, nicht unterdrücken (Inhibition) und antworten entsprechend, Sally werde in der blauen Box suchen. Sally weiß jedoch nicht, dass die Mutter die Murmel aus der grünen Box genommen hat und würde in der grünen Box nach der Murmel suchen. Sallys falsche Überzeugung können die jungen Kinder noch nicht sprachlich ausdrücken (ebd., S. 45ff.). Dementsprechend nennt man diese Aufgaben, die auf falsche Überzeugungen bauen, auch false belief-Aufgaben.

Kinder zwischen 3 und 6 Jahren können explizite Aufgaben dieser und ähnlicher Art zunehmend besser lösen: die Annahmen über Vorlieben scheinen den Kindern am leichtesten zu fallen, danach folgen unterschiedliche Überzeugungen und unterschiedliches Wissen. Zuletzt werden die sog. falschen Überzeugungen und versteckte Emotionen erschlossen. Mit etwa 5 ½ Jahren können Kinder mentale Vorgänge zweiter Ordnung – wie den eingangs beschriebenen – zur Vorhersage des Verhaltens anderer nutzen: Martin vermutet, dass Silke das richtige Geschenk zu bekommen hofft (vgl. ebd., S. 47).

Noch einmal zurück zu den 3-jährigen und jüngeren Kindern. Auch wenn sie eine false-belief-Aufgabe – wie die oben skizzierte – nicht sprachlich lösen können, so haben Forscher*innen mit impliziten Verfahren interessante Ergebnisse hervorgebracht. Jüngere Kinder hätten bereits im ersten Lebensjahr eine spontane Tendenz, die mentalen Zustände anderer zu erschließen. Wie geht das? Die Versuchsanordnung ist so gewählt, dass die Blickdauer der jungen Kinder als eine entsprechende Vorliebe oder Auswahl interpretiert wird. Wenngleich diese Befunde kontrovers diskutiert werden, so scheint es doch einen Bezug zu geben: Kinder, die mit vier Jahren eine kognitive Perspektivübernahme entwickelt haben, bevorzugten bereits mit ca. einem halben Jahr die „richtige“ Lösung. Und das zeigten sie mit einer ausgeprägten Blickdauer.

Wie Kinder üben können, die Sicht anderer einzunehmen

Forscher*innen sind auch der Frage nachgegangen, ob sich die Theory of Mind fördern lässt, und haben entsprechende Trainings entwickelt. Dafür übten Kinder mit entsprechenden Aufgaben. Einem Teil der Kinder (Gruppe A) wurden Geschichten vorgelesen, die Absichten, Überzeugungen und Vermutungen enthielten. Im Anschluss wurden die Kinder gebeten, selbst entsprechende Sätze zu bilden: Ich denke, dass … Ich glaube, dass … Ich will, dass … und entsprechend zu vermuten. Die Kontrollgruppe B hörte ebenso Geschichten, wurde jedoch im Anschluss zu sachlichen Themen, wie z. B. physikalischen Gesetzmäßigkeiten, befragt. Im Test nach dem Training zeigten die Kinder der Gruppe A deutlich bessere Kompetenzen bei den Aufgaben zur Perspektivübernahme. Die Kompetenz war ihnen auch bei Spielen nützlich, bei denen es darauf ankam, die Mitspieler*innen taktisch zu täuschen und so das Spiel zu gewinnen.

Was heißt das nun für die pädagogische Arbeit in der Kita? Ob Rollenspiel, Gefühls-Würfel, Emotions-Pantomime oder Hypothesenbildung im Erzählkreis: Kinder haben Spaß daran, die eigenen mentalen Zustände zu beschreiben und können so auch damit vertraut gemacht werden, die anderer Kinder zu erahnen. Und das hilft ihnen dabei, eine Theory of Mind zu entwickeln, sich darin zu üben und ihre Kompetenzen im Bereich kognitiver Perspektivübernahme zu verbessern. Die Kompetenz nützt den Kindern in der Kita, in der Schule und bei vielen Aufgaben, die das Leben bereithält.

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Literatur

Böckler-Rettig, Anne (2019): Theory of Mind. Ernst Reinhardt Verlag: München/Basel

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