Kindertageseinrichtungen und Sozialraum: Eine Orientierung auf drei Handlungsebenen

Wo gehe ich eigentlich hin, wenn ich abends die Kita verlasse? Woher komme ich, wenn ich mich morgens auf den Weg dahin mache? Findet meine einzigartige Welt Einzug in der Kita? Für die Entwicklung von Kindern ist es wichtig, dass sie einen stimmigen Zusammenhang zwischen der familiären Lebenswelt und der Lebenswelt Kinderhaus erleben. Die Familie ist die erste Gemeinschaft, die Kinder erleben. Die nächste, in die sie sich einfügen, ist die Kita.

Eine intensive und offene Erziehungs- und Bildungspartnerschaft zwischen Eltern bzw. anderen Sorgeberechtigten und den Betreuungspersonen des Kinderhauses kann dazu beitragen, dass die Kinder sich sicher und geborgen fühlen und die individuellen Lebensrealitäten anerkannt und im erzieherischen und pädagogischen Handeln berücksichtigt werden. Die zunehmende Vielfalt und Ausdifferenzierung von Lebensmodellen schaffen sehr unterschiedliche und parallele Realitäten für die Kinder und deren Aufwachsen. So ist es von großer Bedeutung, bereits im Kindergartenalter die Grundlagen für eine inklusive Gesellschaft zu legen und dabei Risikofaktoren für Ausgrenzung zu berücksichtigen. Wie kann dies gelingen? Der Artikel soll Ihnen Gedankenanstöße und konkrete Vorschläge für eine gelingende Sozialraumorientierung bieten. Nutzen Sie dabei die für Ihr Kinderhaus passenden Fragestellungen und Handlungsempfehlungen, um sich den einzigartigen und verschiedenen Lebenswelten der Kinder und ihrer Familien annähern zu können. Sie werden dabei feststellen können, wie aktiv Sie im Sozialraum bereits sind und was Sie künftig angehen können.

Der Sozialraum – eine Begriffsannäherung

Um ein ganzheitliches Verständnis für die Perspektiven und Verhaltensweisen der Kinder zu erhalten, sollte neben den Eltern auch der Sozialraum in den Fokus genommen werden. Häufig wird der Sozialraum als eine administrative Einheit definiert, deren Grenzen klar abgesteckt sind. Allerdings kann der Sozialraum auch als etwas Dynamisches betrachtet werden. Denn soziale Räume entstehen dort, wo Menschen zusammenkommen und miteinander interagieren. Er unterliegt ständigem Wandel und zeichnet sich für Individuen durch ein gemeinschaftliches Wir-Gefühl und soziale Beziehungen aus. Diese Perspektive orientiert sich an der Lebenswelt der Menschen (vgl. Schneider 2015, S. 74f).

Sozialraum ist folglich ein mehrdimensionaler Begriff und umfasst weitaus mehr als nur einen Raum, in dem Menschen beispielsweise wohnen. Es kann sowohl der Wohnraum im Stadtteil, in der Nachbarschaft oder im Gemeinwesen sein, aber gleichzeitig auch als Handlungsraum definiert werden, in dem sich Menschen in der Gesellschaft bewegen und ihn als Aneignungsraum von Beziehungen in der eigenen Lebenswelt nutzen (vgl. Früchtel et al. 2013, S. 14). Die Ausrichtung auf Sozialraumarbeit bedeutet für Kindertageseinrichtungen, sich an den Bedürfnissen der Kinder, der Eltern und dem Umfeld zu orientieren. Im Mittelpunkt stehen dabei die Anliegen der Kinder und Eltern, die durch Zusammenarbeit und Nutzung der vorhandenen Ressourcen im Sozialraum erfüllt und wahrgenommen werden können. Auf diese Weise kann eine erfolgreiche Beteiligung und Integration erreicht werden (vgl. Nolte 2019, S. 11f).

Der erste Schritt – die Sozialraumanalyse

Mit der Methode der Sozialraumanalyse erfolgt eine intensive Auseinandersetzung mit sozialstatistischen Daten, den räumlichen Gegebenheiten und der sozialen Infrastruktur eines Stadtteils. Es erfolgt eine Erfassung des öffentlichen Raums, die Abgrenzung und Differenzierung des Sozialraums, wodurch Potenziale für Vernetzungen erkannt werden können.

Folgende Fragestellungen können als Unterstützung verstanden werden, um ein Verständnis für den individuellen Sozialraum Ihres Kinderhauses zu bekommen.

  • Was ist der Einzugsbereich unserer Kindertagesstätte?
  • Was sind relevante Lebenswelten unserer Kinder?
  • Was wollen wir mit der Sozialraumanalyse erreichen (Lebenswelt kennenlernen, Sozialraum aktivieren, Überblick verschaffen)?
  • Was wissen wir schon? Was glauben wir zu wissen?
  • Welche Daten (Sozialdaten etc.) liegen über den Bereich vor?
  • Von welchen Annahmen gehen wir aus?
  • Wer hat ähnliche Interessen im Sozialraum? Wer kann uns helfen?
  • Wie sollen die Daten ermittelt werden? Fragebogen, Interviews, Fotos etc.
  • Wie sollen die Expert:innen des Sozialraums – Eltern, Kinder, Anwohner etc. – mit einbezogen werden?
  • Wie wollen wir die Ergebnisse auswerten – mit Karten, Berichten, Fotosammlung etc.?

(vgl. Schneider 2015, S.80)

1. Handlungsebene der Kinder

Kinder sollen beim Erlangen von Erfahrungen in ihrem direkten Umfeld begleitet und unterstützt werden. Auf dieser Ebene geht es vor allem darum, Sozialraumorientierung nach innen zuzulassen. Dies geschieht, indem der „Sozialraum, die Erfahrungen und Erlebnisse der Kinder mit ihrem Lebensraum in die Einrichtung“ hereingeholt werden und „diese Welten des Kindes für die frühkindliche Bildung und Erziehung“ (Schneider 2015, S. 9), genutzt werden. Neben der Aneignung der Kindertageseinrichtung sollten sich Kinder auch den öffentlichen Raum außerhalb der Kita erschließen können.

Stadtteil- oder Dorferkundung mit Kindern:

  • Analyse des Stadtteils oder Dorfs gemeinsam mit den Kindern
  • Festlegung eines Themas oder einer Frage im Vorfeld, z. B. Lieblingsorte
  • gemeinsamer Spaziergang zu den ausgewählten Orten
  • Kinder teilen ihre Vorlieben und Gründe für diese Orte mit
  • Dokumentation der Ergebnisse durch Zeichnungen, Bilder, Wanddokumentationen, Portfolioseiten
  • themenorientierte Vertiefung in den folgenden Tagen durch Spiele, Erzählungen, etc.
  • Visualisierung der wichtigen Orte auf einem Stadtplan

 

Alltägliche Aktivitäten zur Unterstützung der Erforschung von Lebensräumen:

  • Einkaufen gehen
  • Nutzung des öffentlichen Nahverkehrs
  • Besuchen von Spielplätzen
  • Kinder erleben sich als Teil der Gesellschaft – dargebotene Infrastruktur (Büchereien; Vereine; Geschäfte; Institutionen) nutzen und sinnvolle Kooperationen initiieren und pflegen
  • Möglichkeit, verschiedene Rollen (z. B. Verkehrsteilnehmer), je nach Alter der Kinder, zu übernehmen

2. Handlungsebene der Eltern

Die Zusammenarbeit mit den Eltern ist eine zentrale Aufgabe von Kindertageseinrichtungen und kann in drei weitere Ebenen unterteilt werden. Die Ebene der Erziehungs- und Bildungspartnerschaft, die Ebene der Unterstützung von Eltern sowie die Ebene der strukturellen Beteiligung von Eltern (vgl. Nolte 2019, S.11).

Erziehungs- und Bildungspartnerschaft – die gemeinsame Verantwortung für die Erziehung und Bildung des Kindes

  • zentraler Bestandteil: die Eltern/ Familien kennenlernen, beginnt schon vor der Eingewöhnung – die Grundhaltung dabei ist Offenheit und Akzeptanz von Vielfalt
  • den Eltern Sicherheit geben – Verlässlichkeit und Verantwortungsübernahme als Basis für eine gelungene Kooperation
  • respektvoller Umgang und Begegnen auf Augenhöhe mit den Eltern, Eltern als Expert:innen des Kindes, Fachkräfte als Expert:innen der Pädagogik
  • hohe Transparenz und Austausch wichtig, einmal jährlich stattfindendes Elterngespräch, ansonsten tägliche Tür- und Angel-Gespräche
  • Investition in eine gute Beziehung, um in schwierigen Situationen helfen zu können

Ebene der Unterstützung von Eltern

  • niedrigschwellige Beratung, z. B bei Fragen zu Erziehung und Bildung
  • spezifische Themenelternabende gestalten, um Erziehungskompetenzen zu fördern -auf Interessen und Bedürfnisse innerhalb der Elternschaft des Kinderhauses eingehen
  • Eltern untereinander vernetzen, z. B durch Elterncafés und Patenschaften für neue Eltern
  • Raum zum Austausch und Kennenlernen bieten – den Eltern zeigen, dass sie in der Kita willkommen sind.
  • Vermittlung zu passenden Hilfsangeboten, wenn die Problemstellung über die Kompetenzen der Kita hinaus geht
  • Fachkräfte/ Betreuungspersonen der Kita sollten sehr nahe am System Familie agieren und erkennen deshalb schnell und niedrigschwellig Probleme und Unsicherheiten, können präventiv Hilfe leisten und vermitteln

Wie können Eltern sich aktiv in der Lebenswelt Kita beteiligen?

  • Werden Eltern beteiligt, entwickeln sie Vertrauen in Einrichtungen?
  • Elternbeirat als Vermittler zwischen Kita und Elternschaft
  • Elternbefragungen zu Zufriedenheit, Wünschen etc.
  • Bedarfserhebungen zu Öffnungszeiten, Betreuungsplätzen etc.
  • Eltern im Alltag beteiligen, z. B bei Ausflügen, eigene Angebote durch Eltern oder Hospitationen in der Kita, als Helfer:innen im Alltag gezielt einzusetzen

3. Handlungsebene des Sozialraums

Auf der Ebene des Sozialraums geht es darum, mit lokalen Institutionen vor Ort „eine passgenaue Abstimmung der Angebote zu erreichen und sich für verbesserte Lebensbedingungen für Kinder und Familien einzusetzen“ (Nolte 2014, S.13).

  • Aufbau von professionellen Netzwerken, um Familien zu vermitteln und Expertise von Fachkräften zu erweitern: z.B. Jugendamt; Frühförderstellen
  • passgenaue Angebote für Familien durch Kooperationen
  • Miteinbezug von Ehrenamtlichen, die Angebote in der Kita anbieten
  • Kooperation mit der lokalen Grundschule, um den Kindern den Übergang zwischen zwei Lebenswelten zu erleichtern, regelmäßige Angebote für die Ältesten der Kita
  • Kita als sozialpolitischer Akteur im Sozialraum kennt am besten die Bedürfnisse von Familien und Kindern – sinnvolle Kooperationen initiieren, die für die pädagogische Praxis einen Mehrwert bieten und eine Bereicherung für die Kinder und ihre unterschiedlichen Lebenswelten darstellen: z.B., das Kinderhaus befindet sich in einem eher urbanen Einzugsgebiet und viele Kinder haben keinen direkten Naturraumbezug – hier wäre der Fokus auf einen Kooperationspartner mit Schwerpunkt Natur sinnvoll

Bei der Sozialraumorientierung kommt es immer auf individuelle Fragestellungen und Schwerpunkte an, da die Lage eines jeden Kinderhauses einzigartig und besonders ist. Ausgangspunkt sollte sein, den Kindern eine Vielzahl an unterschiedlichen Erfahrungsräumen zu eröffnen, um Ausgleich und Chancengerechtigkeit von Anfang an herstellen zu können.

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Literatur

Früchtel, F.; Cyprian, G.; Budde, W. (2013): Sozialer Raum und Soziale Arbeit. Textbook: Theoretische Grundlagen. 3., überarbeitete Auflage. Wiesbaden: Springer VS.

Nolte, Johanna (2014): Sozialraum- und lebensweltorientierte Vernetzung und Kooperation. Online: KiTaFT_Nolte_2014.pdf (kita-fachtexte.de), zuletzt abgerufen am 10.11.2023.

Nolte, Johanna (2019): Erfolgreich Starten. Handreichung zur Sozialraumorientierung in Kindertageseinrichtungen. 1. Auflage. Unter Mitarbeit von Ministerium für Soziales, Gesundheit, Jugend, Familie und Senioren des Landes Schleswig-Holstein. Kiel. Online: Handreichung zur Sozialraumorientierung in Kindertageseinrichtungen (schleswig-holstein.de), zuletzt abgerufen am 10.11.2023.

Schneider, Armin (2015): Die Kita als Türöffner – Wege zur Sozialraumorientierung. Unter Mitarbeit von Katja Göricke, Sylvia Herzog, Catherine Kaiser-Hylla, Ulrike Pohlmann und Xenia Roth. Berlin: Cornelsen.

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