Was Kinder mit Fingerspielen, Reimen & Co. lernen

Wer kennt sie nicht aus der eigenen Kindheit? Fingerspiele wie „Das ist der Daumen, der schüttelt die Pflaumen, der hebt sie auf, der trägt sie nach Haus, und dieser kleine Schelm isst sie alle, alle auf.“ sind den meisten Erwachsenen bestens bekannt. Vielleicht empfindet man diese oder ähnliche Reime als altbacken oder unmodern. Das ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass Fingerspiele, Verse, Gedichte und Bewegungsspiele aller Art eine herausragende Bedeutung für die Entwicklung von Kindern im Krippen-, im Kindergartenalter und darüber hinaus haben. Dass Fingerspiele und Co. für die Sprachentwicklung von Wichtigkeit sind, liegt nahe. Der Nutzen für die kognitive Entwicklung, für soziale und mathematische Kompetenzen ist in der Fachwelt ebenso kein Geheimnis. In jeden Koffer einer Pädagog*in gehört daher ein Repertoire an Versen und Reimen und vor allem Fingerspielen.

Praktischer Nutzen

Reime, Verse und Fingerspiele sind im pädagogischen Alltag unschlagbar einfach. Man braucht dafür kein Material und keine Vorbereitung. Sie sind vor dem Essen, beim Trösten und Einschlafen, bei der Kinderkonferenz, beim Händewaschen und Aufräumen oder einfach so zwischen zwei Stationen im Tagesverlauf einsetzbar und bei Kindern äußerst beliebt. Mit großer Freude am gemeinsamen Tun können Augenblicke geteilter Aufmerksamkeit und großer Verbundenheit geschaffen werden. Kinder haben mit ihren jeweiligen Kompetenzen die Möglichkeit mitzumachen und sich auszuprobieren: sie hören gebannt zu, erkennen das Gesagte wieder, ahmen die eine oder andere Bewegung nach, können bereits einzelne Wörter mitsprechen und lernen so mit großer Leichtigkeit neue Welten kennen. Somit helfen Fingerspiele und Co. dabei, den – manchmal an Defiziten orientierten – Blick auf sich entwickelnde Kompetenzen zu lenken. Und mögen die einfachen Weisen für die Pädagog*innen mitunter langweilig anmuten, für die jungen und auch die älteren Kinder sind Wiederholungen ein wichtiger Schlüssel zum Lernen. Das sichtbare Engagement der Pädagog*in, ihre Freude und Lebendigkeit beim Vortragen der Verse, beim Spiel mit Stimme und Bewegung werden die Lernfreude der Kinder auf natürliche und unaufgeregte Art und Weise befeuern.

Was sagt die Wissenschaft?

Die russische Forscherin und Ärztin Mariela Kolzowa erforschte in den 1970er Jahren die Ursachen für Sprachentwicklungsstörungen bei Kindern. Die Kinder galten als gut versorgt und lebten in einer anregenden Umgebung. Woher rührten dann die Entwicklungsstörungen? Für eine der Studien wurden die Kinder in 3 Gruppen aufteilt. Die Kinder der Gruppe 1 waren mit verschiedenen Spielmaterialien versorgt und konnten mit den Gegenständen spielen. In der zweiten Gruppe wurde großer Wert auf die verbale Kommunikation gelegt. Die 3. Gruppe von Kindern lernte zusätzlich vielfältige Fingerspiele kennen. Das Ergebnis ließ damals die Fachwelt aufhorchen. Die Kinder der 3. Gruppe hatten nicht nur die größten Fortschritte in der feinmotorischen Entwicklung gemacht, sondern auch in der Sprachentwicklung (Plentz 2016, S. 11f.). Auch wenn man heute eine Studie so nicht anordnen würde, der Befund war signifikant: Die Beweglichkeit der Finger ist für die Sprachentwicklung elementar. Oder anders gesagt: Können sich die Finger nicht frei bewegen, so kann sich Sprache nicht angemessen entfalten (vgl. Vahle 2019, S. 211).

Ein anderes Experiment zeigt den Zusammenhang umgekehrt. Man fixierte erwachsenen Proband*innen beim Sprechen die Hände. Und es zeigte sich im Experiment, dass das Sprechen der Proband*innen unflüssig wurde und sie sich weniger differenziert ausdrücken konnten. Plentz (2016, S. 8) bezieht sich hier auf ein Experiment von Herbert Lippert.

Wie bedeutend die Hände sind, zeigen auch Befunde aus der Hirnforschung. Jedes Körperteil ist im Großhirn repräsentiert. Dort werden die verschiedenen Reize verarbeitet bzw. Reize an die Muskeln gesendet. Im Vergleich zum „Rest“ des Körpers belegen die Zunge als Sprechwerkzeug und die Hände vergleichsweise große Teile im sensorischen und motorischen Rindenfeld. Es ist daher nur folgerichtig, Fingerspiele einzusetzen, um „… die Beweglichkeit der Hände zu schulen und ihren sinnvollen Einsatz abgestimmt auf die Sprache einzuüben“ (Plentz, 2016, S. 9). Neben der Beweglichkeit der Finger und Hände werden die Organe gleichzeitig gekräftigt. Die Hand-Auge-Koordination wird angesprochen, der angemessene Einsatz der Kräfte wird verinnerlicht.

Weitere Bildungsbereiche neben Sprache

Kognitive Entwicklung: Durch die Kombination von Bewegung und Sprache prägen sich Fingerspiele besonders gut ein. Das trainiert die Merkfähigkeit der Kinder. Durch häufige Wiederholungen bildet sich bei den Kindern allmählich eine Erwartung an das heraus, was im Fingerspiel oder in der nächsten Strophe des Gedichtes folgt. Dieser Umstand fördert die Hypothesenbildung oder bereitet diese vor. Sind Abfolgen – die Themen der verschiedenen Strophen beispielsweise – bekannt, können Kinder den nächsten Schritt vorhersehen. Darüber hinaus können sodann Variationen ausprobiert werden. Der Kreativität und Fantasie sind keine Grenzen gesetzt – sofern eine aufmerksame Pädagog*in das Setting dafür schafft, sich Zeit nimmt und mit Sprechfreude als Vorbild agiert.

Mathematische Kompetenzen: Die Finger spielen bekanntermaßen beim Zählen eine große Rolle. Es erübrigt sich nahezu, darauf hinzuweisen, dass beim Fingerspiel das Kennenlernen von Zahlenreihen vorbereitet wird. Die fünf Finger hat man immerzu dabei; und so fällt es Kindern mit der Zeit nicht allzu schwer, alle Finger zu benennen und später beim tatsächlichen Zählen alle fünf zu bedenken. Mit dem Zählen über die Finger werden die Zahlen in unserem Gehirn verankert. Fingerspiele sind – darauf weisen auch Hirnforscher hin – kein netter Zeitvertreib, sondern sollten mit Freude und Lust am Sprechen einen Platz im Kita-Alltag haben. Jeden Tag kann Zeit dafür eingeräumt werden!

Soziale Kompetenzen: Wie weiter oben bereits erwähnt, lassen sich mit dem gemeinsamen Erleben Momente der Verbundenheit schaffen. Nicht nur die Beziehung zwischen Erwachsenem und Kind wird dadurch geprägt, auch die von Kindern untereinander gestärkt. Ist eine vertrauensvolle Beziehung aufgebaut, können Kinder den kurzen Schreck, wenn der Reiter bei „Hoppe, hoppe Reiter“ in den Graben fällt, genießen. Die gesamte Kindergruppe kann mit authentisch vorgelebter Sprechfreude eine eigene Dynamik entwickeln: Kinder tauschen sich aus, wie die nächste Zeile des Fingerspiels oder Bewegungsliedes lautet. Oder sie wetteifern, wer ein Lied oder Bewegungsspiel vortragen darf. Oder sie wirken begeistert mit, wenn es darum geht, bei einem Fest ein Lied für die Eltern zu präsentieren.

Und bei allen Kompetenzen, die mit Fingerspielen und Co. angeregt werden, darf eine nicht fehlen: Mit lustigen Fingerspielen findet auch Humor einen festen Platz im Kita-Alltag. Für Kinder ist´s ein Riesenspaß, bei Fingerspielen oder unsinnigen Gedichten miteinander zu lachen. Das schafft zusätzliche Verbundenheit.

Es steckt großes Potential in diesen scheinbar einfachen Spielen, die es im Alltag zu nutzen gilt. Übrigens: Auswendiglernen heißt im Englischen „to learn by heart“. Und das sollte der Umgang mit den Fingerspielen, Versen und Reimen auch sein: eine Sprache des Herzens.

Buchempfehlungen fürs Kinderhaus

Susanne Mardt hat eine Fundgrube an Gedichten, Versen und Fingerspielen zusammengestellt. Im ästhetisch ansprechenden Buch sind die sprachlichen Herrlichkeiten mit Bildern von Angela Glökler wundervoll und witzig illustriert sowie thematisch sortiert. Das macht es für die Nutzer*in leicht, einen Kniereiter, einen tröstenden Vers oder eben Fingerspiele zu finden. Aus meiner Sicht darf dieses oder ein vergleichbares Buch in keiner Kita-Bibliothek fehlen.

Der Klassiker mit einer Fülle von Fingerspielen ist von Ingrid Biermann zusammengestellt worden. In diesem Band finden sich Fingerspiele für alle Anlässe und rund ums Jahr. Was in dem Buch zusätzlich bestechend ist: Es bietet Ideen, wie man mit den Fingerspielen didaktisch wertvoll umgehen kann. Und die Autorin erinnert nochmals daran, welche guten Gründe für den Einsatz sprechen.

Biermann, Ingrid (2018): Das Kindergartenfingerspielebuch. Herder: Freiburg i. Br.

Mardt, Susanne (2017) (Hrsg.): Ene mene mink mank pink pank. Das Hausbuch der Kinderreime und Gedichte. Ellermann: Hamburg

Literatur

Plentz, Asnath (2016): Fingerspiele und Reime – Lernprozesse bei Kindern. Verfügbar unter: https://www.kita-fachtexte.de/fileadmin/Redaktion/Publikationen/KiTaFT_Plentz_2016_Fingerspiele.pdf (letzter Zugriff am 14.2.2021)
Vahle, Frederick (2019): Musik, Sprache und Fingerbewusstsein. In: Neuß, Norbert (Hrsg.): Grundwissen Krippenpädagogik. Ein Lehr- und Arbeitsbuch. 6. Auflage. Cornelsen: Berlin. S. 206-214

Mehr von Christina Henning

Kommentar

Deine Email-Adresse wird nicht veröffentlicht. Pflichtfelder sind mit * gekennzeichnet.