Wege anders gehen: barfuß laufen

Wer kennt es nicht: das wohltuende Gefühl, Socken und Schuhe auszuziehen und barfuß zu sein? Im wahrsten Sinne des Wortes ist damit ein Gefühl von Freiheit verbunden, nicht nur für die Füße und Sinne, sondern für den gesamten Körper. Kinder ziehen ihre Schuhe und Socken gern und oft aus und signalisieren, dass sie barfuß laufen möchten. Haben Kinder ein gutes Körperempfinden, und reagieren sie auf unangenehme Gefühle wie z. B. heiße Füße? Haben die Kinder ein natürliches Bedürfnis und Streben nach sensorischen Erfahrungen?

Warum es förderlich ist, barfuß zu laufen

Kinder lernen ihre Umwelt in der frühen Kindheit in erster Linie über die Sinne kennen. Auch über den Tastsinn der Füße wird ihre Wahrnehmung sensibilisiert und Kinder erfahren, wie sich die Welt um sie herum anfühlt: rau oder glatt, kalt oder warm, hart oder weich etc. Es ist dabei nicht nur das grundsätzliche „Wie fühlt es sich an?“ bedeutsam, sondern auch das subjektive Empfinden: „Wie fühlt sich etwas für mich an? Ist es mir angenehm oder unangenehm?“

Durch den direkten Kontakt der nackten Füße zum Boden findet eine unmittelbarere Körperwahrnehmung statt als mit Schuhen. Kinder haben die Möglichkeit, ihren Körper bewusster zu spüren, einzuschätzen und ihre Körpergrenzen zu erfahren. Die taktile Wahrnehmung erfolgt nicht nur über die Haut an Armen, Händen und Gesicht, sondern auch besonders intensiv über die Empfindungen und Eindrücke, die über die Haut an den Füßen wahrgenommen und verarbeitet werden. Die Füße haben große Fähigkeiten zu differenzierten Wahrnehmungen, da sie dicht mit Tastkörperchen besetzt sind und eine hohe Tastsensibilität besitzen. Durch sie ist es möglich, Strukturen, Konsistenzen, Temperaturen, Größen und Formen zu erfassen und so die Umwelt zu erforschen und kennen bzw. verstehen zu lernen (vgl. Bläsius 2010, S. 14).

Berührungen vermitteln Kindern viele Aspekte, die in ihnen ein Bild des eigenen Körpers und seiner Empfindungen entstehen lassen und damit zur Entwicklung eines Selbstbildes beitragen. Die Entwicklung der taktilen Wahrnehmung hat unter anderem das Ziel, Reize immer besser zu differenzieren (vgl. Bläsius 2010, S. 14f). Ausschließliches Tragen von Schuhen verhindert die sinnliche Begegnung mit der Umwelt und das bewusste Spüren der Fußbewegungen.

Barfuß zu laufen ermöglicht Achtsamkeitserfahrungen. So bietet der direkte Kontakt von Haut zu Boden nicht nur eine Fußmassage, sondern auch ein bewusstes Wahrnehmen von sich selbst im Kontakt mit der Umwelt. Dabei ermöglicht der Naturraum besonders intensive Erfahrungen, da die Untergründe sehr abwechslungsreich sind. Barfuß zu laufen lädt dazu ein, sich zu besinnen und damit auseinanderzusetzen, wie behutsam und vorsichtig man sich je nach Beschaffenheit des Bodens bewegen kann. Nicht nur das Fortbewegen mit nackten Füßen ist ein Sinneserlebnis. Insbesondere jüngere Kinder halten oft inne und sind ganz bei sich, wenn sie ihre Zehen beim Hin- und Herbewegen beobachten.

Wie Füße sich entwickeln

In der frühen Kindheit entwickeln die Füße ihre richtige Form. Bei Säuglingen und Kleinkindern sitzt im inneren Fußgewölbe ein Fettpolster, das den Fuß wie einen Plattfuß erscheinen lässt. Das Laufenlernen trägt dazu bei, dass dieses Fettpolster allmählich verschwindet und sich der Fuß durch die stärker werdenden Muskeln aufrichtet. Durch den Aufbau der Knochen und Muskulatur formt sich das Fußgewölbe. Neben Nährstoffen über die Nahrungsaufnahme ist Bewegung notwendig. Barfußlaufen trägt dazu bei, dass sich die Muskeln des Fußgewölbes festigen und ausbilden. Die Schuhe und das Fußbett stützen die Füße und reduzieren die Eigenaktivität der Muskeln (vgl. Renz-Polster et al. 2012, S. 365f).

Zur Förderung einer guten Entwicklung von Knochen und Muskeln brauchen Füße mechanische Reize, die durch Bewegungsfreiheit (barfuß oder mit rutschfesten Socken) gut ermöglicht werden kann. Barfußlaufen hat zudem positive Effekte für die Entwicklung der Wahrnehmung im Raum. Ohne Schuhe bewegen sich die Füße und Zehen mehr, so dass das Nervensystem intensiver beansprucht wird und Reize weitergibt (vgl. Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte e. V. 2018).

Einfluss auf motorische Fähigkeiten

Eine Studie aus den Jahren 2015/2016 hat untersucht, wie der Zusammenhang zwischen der Entwicklung der motorischen Fähigkeiten und dem Laufen mit oder ohne Schuhe ist. Hierbei kam man zu dem Ergebnis, dass regelmäßige körperliche Aktivitäten ohne Schuhe einen positiven Einfluss auf die motorischen Fähigkeiten haben, insbesondere auf die Entwicklung von Gleichgewichts- und Sprungfähigkeiten (vgl. Springer Medizin 2018). Das Laufen auf unebenen Untergründen unterstützt die Entwicklung des Gleichgewichtssinns und ist intensiver, wenn Reize mit nackten Füßen möglich sind.

Durch Schuhe erhalten Füße mehr Halt und Schutz, gleichzeitig werden weniger Muskeln beansprucht. Barfußlaufen fördert die Beweglichkeit und Kraft der Bänder und Gelenke. Darüber hinaus ist zu beachten, dass Kinder durch ihre Wahrnehmungen ihre Umgebung erkunden, Reize verarbeiten und dadurch ihre Bewegungen verändern (vgl. Zimmer 2019, S. 103ff). Das heißt, durch intensive bzw. unmittelbare sensorische Erfahrungen und den damit zusammenhängenden motorischen Aktivitäten modifizieren Kinder ihre Bewegungsmuster und entwickeln sie weiter.

Risiken versus Entwicklungspotential?

All die genannten positiven Aspekte sind nicht losgelöst von möglichen Gefahren und Risiken zu betrachten. Sind es Insekten auf der Wiese, rutschige Böden mit ausgelaufenen Flüssigkeiten oder Bereiche, in denen Fahrgeräte genutzt werden: Es gilt, mögliche Gefahrenquellen zu eruieren und mit Blick auf das kindliche Verhalten abzuschätzen. Sind es Gefahren, von denen Kinder geschützt werden müssen? Oder bieten die Rahmenbedingungen der Umgebung Chancen, mit den Kindern ins Gespräch zu gehen, sie auf eine mögliche Herausforderung oder Gefahr hinzuweisen und ihnen so die Möglichkeit zu bieten, den Umgang mit Risiken zu erlernen. Renz-Polster betont, dass der Umgang mit Risiken ein wesentlicher Aspekt der kindlichen Entwicklung ist. Nur wenn Kinder Risiken eingehen dürfen, können sie lernen, diese einzuschätzen und mit ihnen umzugehen. Dafür ist eine Umwelt notwendig, die vielfältig ist und möglichst alle Sinne beansprucht (vgl. Renz-Polster/Hüther 2019, S. 180). Kinder können den Umgang mit Risiken dann besonders gut erlernen, wenn kleine und fürs Kind überschaubare Risiken zugelassen werden und auf Gefahren hingewiesen wird, anstatt sie aus dem Weg zu räumen. Kinder vergessen kleine Schrammen schnell, aber (Erfolgs-)Erlebnisse bleiben ihnen lange im Gedächtnis. Die erwachsenen Begleiter*innen sollten immer wieder hinterfragen, wie ein Setting beschaffen ist und welche Schlüsse sie daraus ziehen: Steht die Befürchtung, Kinder könnten sich verletzen, im Vordergrund? Welche Einschränkungen im Körpererleben und -entwicklung des Kindes sind damit verbunden (vgl. Renz-Polster et al. 2012, S. 40)?

Es gibt keine gesetzlichen Grundlagen, die untersagen, dass Kinder barfuß in Kindertagessstätten laufen dürfen. Gesundheitsämter sprechen Empfehlungen aus, die einen sinnvollen und verantwortungsbewussten Umgang befürworten (z. B. während der Einnahme von Mahlzeiten Schuhe zu tragen), und weisen darauf hin, Verletzungsgefahren oder Möglichkeiten der Ansteckung von Infektionskrankheiten zu bedenken. Daher lohnt es sich unbedingt, zunächst im Team und dann mit den Kindern über Freiheiten und Einschränkungen zu verhandeln: Wann und wo dürfen die Kinder barfuß laufen? Wo stellen die Kinder ihre Schuhe ab? So ermöglichen Pädagog*innen den Kindern, neben dem Zutrauen in die eigenen Empfindungen, sich als selbstwirksam und autonom zu erleben.

Erlebnis für die Füße

Bewegung als ganzheitliche Lernerfahrung ist nicht nur für die fein- und grobmotorischen Fähigkeiten wichtig, sondern auch für die Tastsinn und die Körperwahrnehmung. Mangelnde Körpererfahrungen beschränken die geistigen und seelischen Fähigkeiten (vgl. Renz-Polster et al. 2012, S. 39). Unbestritten ist, dass Kinder taktile Erlebnisse brauchen und sie Möglichkeiten dazu benötigen. Wie können wir die Kinder dabei unterstützen, ihre Körperwahrnehmung zu sensibilisieren, ihre Empfindungen ernst nehmen und darauf eingehen? Haben Kinder die Möglichkeit barfuß zu laufen? Welche Signale senden sie und wie gehen Erwachsene darauf ein?

Im Sommer bietet der Naturraum vielfältige Tasterlebnisse für die Füße und weiterführende Impulse für das Körpererleben: Über welchen Untergrund laufe ich? Wo kitzelt es mich? Ist es angenehm? In kühleren Jahreszeiten können unterschiedliche Fußbodenbeläge in den Innenräumen reizvolle Taststraßen ergeben: ist etwas flauschig, warm, kühl, glatt? Probieren Sie es aus und lassen sich auf Wahrnehmungs-Erlebnisse ein.

Literatur

Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte e. V. (2018): Barfußlaufen fördert Geschicklichkeit beim Springen und Balancieren. https://www.kinderaerzte-im-netz.de/news-archiv/meldung/article/barfusslaufen-foerdert-geschicklichkeit-beim-springen-und-balancieren/ (zuletzt abgerufen am 01.08.2021)

Bläsius, Jutta (2010): 3 Minuten für alle Sinne. Übungen für zwischendurch in Kita und Schule. München

Renz-Polster, Herbert; Menche, Nicole; Schäffler, Arne (2012): Gesundheit für Kinder. München

Renz-Polster, Herbert; Hüther, Gerald (2019): Wie Kinder heute wachsen. Natur als Entwicklungsraum. Weinheim

Springer Medizin (2018): Barfußlaufen fördert das Balancegefühl von Kindern. MMW – Fortschritte der Medizin 160/3. www.doi.org/10.1007/s15006-018-0787-3 (zuletzt abgerufen am 01.08.2021)

Zimmer, Renate (2019): Handbuch Sinneswahrnehmung. Freiburg

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