Vom Umwerfen eines Turms zum selbstgebauten Meisterwerk

Kleinkinder bauen. Kindergartenkinder bauen. Schulkinder bauen. Stellt man unbekanntes, spannendes Material zur Verfügung, beginnen sogar Jugendliche und Erwachsene zu bauen. Dabei kann es sich um die verschiedensten Arten von Bausteinen handeln: um Material für eine Murmelbahn, Alltagsmaterialien, Naturmaterialien oder auch um Dinge, die im ersten Moment gar nicht zum Bauen gedacht sind. Das richtige Material kann inspirieren, fesseln und immer wieder neu zu Wunderwerken anregen.

In der Bauecke, am Marktplatz, auf oder unter einem Tisch, auf einem Podest, im Garten, im Sandkasten, im Flur oder im Wald – überall wird gebaut. Beim Bauen und Konstruieren werden die Eigenschaften des Materials untersucht, ausprobiert, experimentiert. Ein Risiko wird eingegangen, Frust geübt.

Wie baut Alex?

Alex kommt in den Raum geht auf die Materialien zu und wählt ganz bewusst eine Bausteinart aus. Zuerst wird entschieden, wo genau gebaut werden soll: mittig, in der Nähe eines anderen Bauwerkes oder vielleicht nahe der Wand? Alex geht auf das Podest im Raum und beginnt mit dem Bau. Der erste Stein wird gelegt, ein zweiter, dann ein dritter. Das Bauwerk wächst rasch und nimmt Formen an. Alex baut vertikal und horizontal. Das Material scheint spannend zu sein und zu fesseln. Der gesamte Körper bewegt sich gezielt und vorsichtig. Trotzdem geht Alex ein größeres Risiko ein und setzt einen größeren Stein leicht schräg. Der Turm stürzt in sich zusammen. Nach kurzem Schreck, einem kurzen Blick zur pädagogischen Fachkraft wird wieder von vorn begonnen – nun verändert Alex eine kleine Variante. Das Fundament wird erweitert. Ansonsten baut Alex nach dem erneut gleichen Plan.

Von außen betrachtet ist Alex in der eigenen Welt – im Flow und völlig im Tun versunken. Ablenkung von außen scheint kaum möglich oder würde auf große Gegenwehr stoßen. Die Zeit verfliegt. Alex genießt und ruht in sich. Es gilt eine Aufgabe zu lösen, die nach den eigenen Regeln ausführt werden. Diese Aufgabe fesselt und motiviert. Mit dem breiteren Fundament wächst der Turm in die Höhe, ein Stuhl zum Stabilisieren wird geholt. Alex ist voller Selbstvertrauen und weiß, dass diese Aufgabe gelöst werden kann. Das Material ist aufgebraucht, aber das Ergebnis entspricht noch nicht den eigenen Vorstellungen. Das Gebaute wird wieder zerstört. Der Prozess wird weiter optimiert. Dieses Mal wird erneut eine Kleinigkeit in der Konstruktion des Bauwerks verändert. Alex legt bestimmte Teile bewusst beiseite und hebt sie für einen späteren Zeitpunkt auf. Die Bauteile haben nun einen festen Platz im Bauwerk.

Dann verlässt Alex den Raum und sucht fehlendes Material – in der ganzen Kita. Alex kennt sich aus und weiß, welches Material zur Verfügung steht. Alles folgt dem Plan. Nachdem er das mitgebrachte Material eingebaut hat, hält Alex inne, betrachtet das Werk und beschließt, dass es nun fertiggestellt ist. „Was habe ich geschafft?“, mag er denken. Was bleibt ist Stolz. Zufriedenheit. Glück. Selbstbewusstsein. Ausgeglichenheit. Innere Ruhe.

element-i Magazin Turm Bärcheninsel
Abbildung 1: Der Turm (vielen Dank an das Team der element-i Kita Bärcheninsel)

Entwicklungsschritte des Bauens

Kinder erfahren von Anfang an, dass unterschiedliche Dinge mit unterschiedlichen Formen unterschiedliche Eigenschaften haben. Kinder probieren aus, wie sich eine Kugel, ein Würfel verhält und wie sich mehrere miteinander verhalten. Kann man Kugeln stapeln? Rollt ein Würfel? Eigene Erfahrungen macht damit jedes Kind und zieht seine Schlüsse daraus. Es wird mit der Zeit mehr und mehr zum Baumeister, da es die Gesetze der Dinge kennen und einsetzen lernt (Fthenakis 2014, S. 123).

Auch wenn Vieles in der kindlichen Entwicklung genetisch determiniert ist, so sind Entwicklungsverläufe von Kindern höchst individuell. Nach Beobachtungen von Largo jedoch vollziehen sich die Schritte hin zu einer bestimmten Fertigkeit in stets gleicher Reihenfolge (Largo 2016, S. 211). Welche Entwicklungsschritte durchläuft ein Kind beim Bauen und Konstruieren? Welche Fähigkeiten muss ein Kind erwerben, um später Meisterwerke zu erschaffen? Welche motorischen Schritte sind notwendig?

Beeindruckend und zugleich banal ist die einfache Erkenntnis: Jedes Mal, wenn wir Erwachsene beobachten, dass ein Kind etwas macht, das es zuvor noch nie gemacht hat, das es zuvor nicht konnte, dann hat es etwas gelernt (Hille et al. 2019, S. 20).

Es lassen sich bestimmte Entwicklungsschritte, die vor allem die Bereiche der Fein- und Handmotorik betreffen, bei Kindern beobachten. Als Handmotorik ist die Bewegung und Haltung der Hände, auch mit beiden Händen gemeinsam und vor allem auch in Kombination mit Handgelenken und Fingern zu verstehen. Als Handgeschicklichkeit bezeichnet man die Koordination der Bewegungen zur geschickten Manipulation von Gegenständen und zur Nutzung für den alltäglichen Objektgebrauch. Das Zusammenspiel der Koordination von Auge und Händen nennt man visuomotorische Koordination (Auge-Hand-Koordination).

Dabei entwickeln Kinder im Bildungsbereich Bauen und Konstruieren vor allem prozedurales Wissen: Wissen über das „wie“. Das Erlernen passiert implizit, nebenbei und beiläufig und intrinsisch motiviert. Während das Kind einen Turm baut, lernt es etwas über statische Gesetze. Wenn er einstürzt, lernt es etwas über Gravitation. Das Kind sucht sich unterschiedliche Gegenstände zum weiteren Bauen und lernt dabei etwas über den Zusammenhang von Gewichten und Größen.

Die ersten Monate

Neugeborene reagieren bereits nach der Geburt mit reflexartigem Greifen, welches um den vierten Monat verschwindet und sich dann als bewusste Handlung des Säuglings zu einem gezielten Greifen entwickelt. Zu diesem Zeitpunkt können Kinder, sobald sie einen spannenden Gegenstand sehen, ihre Hände gezielt zu diesem Gegenstand steuern und diesen ergreifen. Der auf unterschiedliche Art und Weise ergriffene Gegenstand wird dann zum Mund geführt und kennengelernt – Größe, Gewicht, Form, Oberfläche und Konsistenz.

Mit der Zeit beginnen Kinder, Gegenstände bewusst zu manipulieren, um eine Bewegung auszulösen (z. B. am Mobile). Dies wird als Funktionsspiel bezeichnet. Besonders beeindruckend: Das vier Monate alte Kind greift nach unbewegten und bewegten Gegenständen – und dies zielsicher. Es besitzt so viel physikalisches Grundverständnis, dass es den Weg des Gegenstands voraussagen kann – egal ob der Gegenstand sich in einer Geraden oder in einer Kurve bewegt (Hille et al. 2019, S. 124).

Ab dem 9. Lebensmonat

Mit ca. 9 bis 12 Monaten erkennen Kinder, dass Objekte, die sich nicht mehr in ihrem Sichtfeld befinden, dennoch nicht gänzlich verschwinden, nur weil sie aus dem Blickfeld geraten sind. Diese Erkenntnis wird als Objektpermanenz beschrieben. Wie Stemme & Eickstedt (1998, S. 114) beschreiben, lernt das Kind nun Gegenstände zu identifizieren.

Kinder erkennen, dass ein Ding, das zu Boden fällt, das gleiche Ding ist, das es zuvor in den Händen gehalten hat. Kinder werfen nun immer wieder Dinge vom Hochstuhl und freuen sich, wenn man ihnen diese wieder anreicht. Am Spiel Fallenlassen und Aufheben haben sie großen Spaß. Auch sich selbst zu verstecken, macht mehr und mehr Freude. Kinder wissen nun, dass Dinge, die verschwinden, noch da sind und auch die gleichen bleiben. Das unermüdliche Wegwerfen und Verstecken hilft den Kindern, die Dimensionen des Raumen kennenzulernen. Die Erkenntnis, dass verschwundene Dinge weiterhin da sind, ist ein wichtiger Schritt zum Abstrahieren.

Sie krabbeln gezielt in andere Räume, um Spielgegenstände aufzusuchen. Die bewusste und selbstgesteuerte Bewegung im Raum ist ein weiterer Schritt im Kennenlernen der räumlichen Dimensionen.

Im nächsten Schritt beginnen Kinder auch Dinge umzuwerfen. Flaschen, Becher, Türme nichts ist mehr sicher und wird sofort umgeworfen. Dies kann zum Frust von älteren Kindern und Erwachsenen führen, wenn den jungen Kindern hier eine boshafte Absicht der Handlung unterstellt wird.

Mit 10 Monaten gelingt bereits der Pinzettengriff, mit denen Kinder selbst kleine Krümel vom Boden aufheben können. Was die Kinder plötzlich im Raum alles finden?

Im Alter von 9 bis 15 Monaten sind Schubladen und Kisten nicht mehr sicher – von uns Erwachsenen wird Geduld verlangt, denn es wird ausgeräumt. Alles wird ausgeräumt. Gebaut wird in dieser Phase noch nicht. Umschubsen, Runterschmeißen, Ausräumen bestimmen das Handeln des Kindes. Es erkennt, dass ein Gegenstand in einem anderen sein kann.

Die nächste Phase beginnt, wenn Kinder verschiedene Gegenstände ineinanderstecken. Was passt wo herein? Kleine Autos verschwinden in Löchern von Podesten, kleine Becher werden in große gesteckt. Passt die Schüssel in den Topf? Ebenso werden Dinge von A nach B transportiert – in Wägen, Taschen, Kisten.

Ab dem 15. Lebensmonat

Und dann plötzlich versuchen die Kinder, Dinge zu stapeln. Langsam und vorsichtig wird ausprobiert, was aufeinandergelegt werden kann – erst zwei Bausteine, dann drei. Aber auch alles andere, was sich stapeln lässt, wird gestapelt. Das Kind beginnt die vertikale Dimension beim Spiel auf verschiedene Art und Weise kennenzulernen (vgl. Largo 2016, S. 209ff.). Zuerst handelt es sich um eher kleinteiliges Bauen auf einer Stelle. Die meisten Kinder können im Alter von 18 Monaten zwei bis vier Bausteine aufeinander stapeln. Mit 24 Monaten widmet sich das Kind zunächst dem horizontalen Bauen. Gegenstände werden aneinandergereiht. Mit ungefähr 30 Monaten verbindet das Kind dann das vertikale und horizontalem Bauen. Acht Bausteine stapeln die meisten Kinder im Alter von 36 Monaten. Und dann geht es richtig los: Die Bauten werden höher, komplexer und nach Plan gebaut. Kindergartenkinder verbinden die Dimensionen äußerst geschickt miteinander, sodass mithilfe des entwickelten räumlichen Vorstellungsvermögens dreidimensionale Wunderwerke entstehen. Kinder bauen gemeinsam als Team und mehrere Tage an einem Bauwerk. Sie können Bauwerke nach eigenem Plan, oder nach Vorlage nachbauen. Nur der Raum und die Materialmenge beschränken die Komplexität des Bauwerkes.

Ich habe vor einiger Zeit mit meinen Nichten mein Lieblingsbaumaterial vom Dachboden geholt. Zum Glück hat meine Mutter es nicht übers Herz gebracht, dieses zu entsorgen: Meine Holzeisenbahn und meine geliebte Murmelbahn. Beim Bau kamen Erinnerungen zurück, ich fühlte mich zurückversetzt in diese Zeit. Womit haben Sie als Kind am liebsten gebaut? Mit welchem Bauwerk haben die Kinder Ihrer Kohorte Sie das letzte Mal zum Staunen gebracht? Gern können Sie mir Fotos der Bauwerke zukommen lassen – vielleicht schaffen Sie es in meinen nächsten Artikel.

Literaturverzeichnis

Fthenakis, W. E. (2014): Natur-Wissen schaffen 2. Frühe mathematische Bildung. Essen: LOGO Lern-Spiel-Verlag.

Hille, K.; Evanschitzky, P.; Bauer, A. (2019): Das Kind – Die Entwicklung zwischen drei und sechs Jahren. Psychologie für pädagogische Fachkräfte. Hamburg: Verlag Handwerk und Technik.

Largo, R. H. (2016): Kinderjahre. Die Individualität des Kindes als erzieherische Herausforderung. 31. Aufl. München: Piper Verlag.

Stemme, G.; von Eickstedt D. (1998): Die frühkindliche Bewegungsentwicklung. Vielfalt und Besonderheiten. Düsseldorf: verlag selbstbestimmtes leben.​

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