Berliner oder Münchner Modell – die gängigen Eingewöhnungsmodelle kurz besprochen

Im Artikel Bindung – das wichtigste Bedürfnis eines Kleinkindes wurden theoretische Erkenntnisse zur Bindung kurz vorgestellt. Die Erkenntnisse der Bindungsforschung haben natürlich Einfluss auf die institutionelle Betreuung, besonders auf die Eingewöhnung. Betrachtet man außerdem gängige Aussagen zu den Grundbedürfnissen der Kinder, steht in jeder Auflistung das Bedürfnis nach Bindung, Fürsorge und Geborgenheit sowie liebevollen Beziehungen ganz oben.

Folglich kommt der Eingewöhnung in einer außerfamilialen Institution eine besondere Bedeutung zu, besonders im Kleinkindalter. Wenn Sie sich an den vergangenen Artikel erinnern, wurde dargestellt, dass die eigentliche Bindungsphase mit ca. einem halben Jahr beginnt und bis zum 24. Lebensmonat dauert – also genau in dem Alter, in dem die meisten Kinder ihre Kindergarten-Karriere starten. Ein sanfter und gut begleiteter Übergang von der Familie in die Betreuungsinstitution ist damit für die weitere Entwicklung bedeutend. Gelingt dieser gut, haben die Kinder die Gelegenheit, emotional stabil aufzuwachsen und umfassende Sozialkontakte und -kompetenzen zu erwerben.

Entsprechend haben sich im Laufe der letzten drei Jahrzehnte verschiedene Eingewöhnungspraktiken entwickelt. Die beiden bekanntesten sollen hier zusammengefasst vorgestellt werden. Vorweg sei gesagt: Beide Modelle beziehen sich in ihren Grundsätzen auf Bowlbys Bindungstheorie und seine Definition einer sicheren Bindung: Die Bezugsperson wird als sichere Basis erlebt, das Kind exploriert in seiner Gegenwart und weint bei Trennung. Bei der Wiedervereinigung ist es in der Lage, seine Emotionen effektiv zu regulieren. Die Bezugsperson gibt damit dem Kind auch eine mentale Sicherheit um anstehende Übergänge zu meistern.

Kinder sind weiter grundsätzlich in der Lage, Mehrfachbindungen aufzubauen. Ausschlaggebend dafür ist die Möglichkeit, schon im Laufe des ersten Lebensjahres Bindungen und Beziehung zu anderen Menschen (wie Geschwister, Großeltern etc.) erleben und aufbauen zu können. Hierfür ist auch die Bindungsqualität zur Hauptbindungsperson (kulturell verbreitet meistens die Mutter, direkt gefolgt vom Vater) relevant: Kinder mit einer sicheren Bindung zur Bezugsperson sind, wie beschrieben, in der Lage zu explorieren und mental fähig, dann auch gefestigte Bindungen zu anderen Personen aufzubauen.

Berliner Eingewöhnungsmodell

Das Berliner Eingewöhnungsmodell wurde im Rahmen des INFANS-Modells von Laewen et al. entwickelt und stellt die Beziehung zwischen Kind und Eingewöhnungserzieherin in den Mittelpunkt. Bevor die eigentliche Eingewöhnung in der Einrichtung beginnt, findet ein gemeinsames Gespräch mit den Eltern statt, das über den Ablauf der Eingewöhnung, die Gegebenheiten der Einrichtung und die bisherigen Erfahrungen und Bedürfnisse des Kindes gegenseitig informiert.

Grundphase

In dieser ersten dreitägigen Phase ist die Bezugsperson für die Dauer von ca. 1 – 1,5 Stunden zusammen mit dem Kind in der Einrichtung. Die Bezugsperson verhält sich eher passiv, akzeptiert aber gleichzeitig, wenn das Kind die Nähe sucht. Sie bildet die sichere Basis, von der aus die Erkundung erfolgen kann. Das Kind kann dazu angeregt, aber nicht gedrängt werden. Die Fachkraft beobachtet anfangs das Kind in seinem Spiel- und Interaktionsverhalten und unternimmt erste Kontakteversuche, z.B. Spiel- und Konversationsangebote.

Trennungsversuch

Am vierten Tag (bzw. am Dienstag, wenn ein Wochenende dazwischen liegt) erfolgt der erste Trennungsversuch nach einen kurzen Ankommens- und deutlichen Verabschiedungsphase. Die Bindungsperson verlässt dabei nicht die Einrichtung, sondern bleibt in kurz erreichbarer Nähe (Elternecke oder ähnliches, möglichst außer Sicht- und Hörweite des Kindes). Die Reaktion des Kindes auf den Trennungsversuch ist ausschlaggebend für den weiteren Verlauf der Eingewöhnung:

  • Akzeptiert das Kind die Abwesenheit der Bezugsperson, möglicherweise nach kurzem Weinen und lässt sich von der Fachkraft trösten bzw. findet wieder ins Spiel zurück, kann die Trennung auf ca. 30 Minuten gedehnt werden. Der weitere Verlauf der Eingewöhnung kann in kürzeren Abständen erarbeitet werden. Wichtig ist ein positiver Abschluss des ersten Trennungsversuchs: Wenn das Vermissen der Bezugsperson größer zu werden scheint und das Kind das Spiel verliert, sollte man die Bindungsperson nach weniger als 30 Minuten zurück holen.
  • Wirkt das Kind unsicher, sucht es deutlich nach der abwesenden Bezugsperson und lässt sich auch von der Bezugserzieherin nicht trösten, wird der Elternteil direkt zurück gebeten und nimmt sein Kind wieder in Empfang. Die restliche Eingewöhnung dauert entsprechend länger. An den beiden darauf folgenden Tagen sollte die Bezugsperson wieder am Gruppengeschehen teilnehmen, um dem Kind Sicherheit und Vertrauen zu geben. Erst am siebenten Tag soll ein erneuter Trennungsversuch unternommen werden.

Stabilisierungsphase

Die Trennung von der Bezugsperson verläuft gelassen, wie oben beschrieben, das Kind ist nun ohne die Bezugsperson in der Einrichtung. Die Dauer wird nach und nach, abhängig vom Verhalten und den Bedürfnissen des Kindes, erweitert. In den ersten Tagen sollte die Bindungsperson noch in der Nähe der Einrichtung sein. Entsprechend übernimmt die Bezugserzieherin die Aufgaben der Bindungsperson: Versorgung und Spielen. Dies sollte auch angestrebt werden, wenn am 5. und 6. Tag noch keine weitere Trennung unternommen werden kann. Das Vorgehen bleibt von den Reaktionen des Kindes abhängig.

Schlussphase

Bleiben die Trennungen und das gezeigte kindliche Verhalten stabil, kann die Bezugsperson nun auch für eine gewisse Zeit anderen Tätigkeiten nachgehen, sollte aber abrufbereit sein. Das Kind beginnt, die Bezugserzieherin als sicheren Hafen zu akzeptieren, und sucht Geborgenheit bei ihr. Im Idealfall besucht das Kind anfänglich die Einrichtung noch nicht für den ganzen Tag und erobert sich die weiteren Stationen im Tagesablauf nach und nach.

Münchner Eingewöhnungsmodell

Das Münchner Eingewöhnungsmodell nimmt das eben beschriebene Berliner Modell als Grundlage und wurde unter Federführung von Kuno Beller weiterentwickelt und berücksichtigt stärker den Transitionsansatz. Hauptaspekt ist hier, dass die Kindergruppe eine besondere Relevanz erhält und maßgeblich zur Eingewöhnung des Kindes beträgt.

Auch hier besteht ein Beziehungsdreieck zwischen Kind, Erzieherin und Eltern. Letztere fungieren ebenfalls als sicherer Hafen, von dem aus das Kind seine Umgebung erkunden kann und sich nach und nach an die neuen Gegebenheiten in der Institution gewöhnen kann. Gleichzeitig hat die Bezugsperson so auch die Möglichkeit, die neuen Abläufe in der Kita kennenzulernen und sich mit der neuen Situation der Fremdbetreuung auseinander zu setzen. Die Eingewöhnung gliedert sich in fünf Phasen, deren Tempo das Kind bestimmt. Die Grunddauer wird auf vier bis sechs Wochen geschätzt.

Vorbereitungsphase

In einem ersten Gespräch zwischen Eltern und möglichst der Bezugserzieherin werden die Eltern über die Rahmenbedingungen wie Tagesablauf, konzeptionelles Arbeiten und die Einrichtung an sich informiert. Gleichzeitig erhält die Fachkraft Informationen über die Gewohnheiten und Bedürfnisse des Kindes und die elterlichen Erwartungen an die Eingewöhnungszeit und die Einrichtung.

Kennenlernphase

Zusammen mit der Bezugsperson nimmt das Kind über ca. eine Woche am Tagesablauf der Einrichtung teil. Es lernt in dieser Zeit die Gegebenheiten und Abläufe kennen und kann sich in Ruhe orientieren, die Bezugsperson stellt auch hier den sicheren Hafen und Rückzugsort dar. Das Tempo der Exploration bestimmt das Kind. Gleichzeitig ist hier Gelegenheit, die ersten sozialen Kontakte zu knüpfen und vor allem die Kindergruppe in ihren Interaktionen und Handlungen zu beobachten: Das vorhandene Vertrauen zu den Erziehern dient beispielhaft für das einzugewöhnende Kind.

Sicherheitsphase

In der zumeist zweiten Woche agiert die Fachkraft aktiver. Nachdem sie in der ersten Woche das Kind in seinen Bedürfnissen und seiner Interaktion mit der Hauptbezugsperson kennengelernt hat, übernimmt sie nun zunehmend die bisherigen elterlichen Aufgaben (Ruhe, Hygiene, Versorgung, Erkundungen). Die Fachkraft bietet sich dabei tatsächlich eigeninitiativ als Spiel- und Entdeckungspartner*in an, begleitet von dem Elternteil, der dem Kind durch seine Anwesenheit nach wie vor Sicherheit bietet. Das Spielangebot ist von den Bedürfnissen und Vorlieben des Kindes abhängig. Je freudvoller es auf das Spiel reagiert, desto positiver ist die Verbindung, die es mit der Erzieherin assoziiert. Auch in dieser Phase nimmt die übrige Kindergruppe wieder die Vorbildrolle ein: Sie zeigt dem Kind die Verhaltensweisen in der Einrichtung und animiert zum gegenseitigen Spielen und Ausprobieren. Nimmt das Kind Kontakt zur gut sichtbaren und weiterhin präsenten Bezugsperson auf, soll diesem auch nachgegangen werden. Ein Weg-Schicken des Kindes stellt sich als kontraproduktiv dar. Durch die nun bekannten Abläufe und Gegebenheiten sowie ein zustimmendes Verhalten der Bezugsperson entwickelt sich über die ersten zwei Wochen hinweg die Grundlage für die nächste Phase.

Vertrauensphase

Nun wird die Rolle des Elternteils zunehmend passiver, die Fachkraft übernimmt mehr und mehr die Versorgung in allen Belangen. Die erste Trennung ist möglich, wenn das Kind alleine und ohne Kontaktversuche zum Elternteil spielt oder die Bezugserzieherin als Interaktionspartner*in annimmt. Auch hier ist ein deutliches und bewusstes Verabschieden wichtig. Das Kind weint trotz der vorbreitenden Phasen möglicherweise dennoch, eine Trennung verursacht nach wie vor Stressmomente für das Kind. Die Eingewöhnung kann als abgeschlossen betrachtet werden, wenn sich das Kind nach kurzer Zeit beruhigen lässt und wieder ins Spiel mit der Fachkraft oder der Kindergruppe findet. Ist dies nicht der Fall, sollte die Bindungsperson für weitere Tage in der Einrichtung verbleiben, bevor ein erneuter Trennungsversuch unternommen wird. Eltern fällt die Trennungsphase nicht immer leicht, weshalb die Entscheidung von allen Seiten besprochen und akzeptiert werden sollte.

Phase der Reflexion

Das Kind nimmt nun an allen Punkten im Tagesablauf ohne Ängste und Unsicherheiten teil. Es sucht Kontakt sowohl zur Kindergruppe als auch zu den Fachkräften. Für die Eltern stellt sich zu Hause ein neuer Alltag, meist mit Berufstätigkeit verbunden, ein, an den sie sich gewöhnt haben. Gemeinsam mit der Bezugserzieherin findet einige Wochen später ein Reflexionsgespräch statt, das den Verlauf der Eingewöhnung reflektiert und die Entwicklung des Kindes thematisiert.

Vergleich der Eingewöhnungs-Modelle

Neben der grundlegenden Basis, Bowlbys Bindungstheorie, lassen sich weitere Gemeinsamkeiten der beiden Eingewöhnungsmodelle erkennen, was sicher auch daran liegt, dass das Münchner Modell auf den Berliner Erfahrungen aufbaut. Beide Modelle legen Wert auf eine sorgfältige Planung und eine allmähliche Eingewöhnung des Kindes und Trennung von der Bezugsperson. Das Kind muss nicht einfach in der Einrichtung verbleiben. Gleichzeitig wird die Beziehung zur Erzieherin Stück für Stück aufgebaut. Der gesamte Verlauf und die Absprachen zur Eingewöhnung basieren auf den kindlichen Reaktionen und auch den individuellen Bedürfnissen der Familie. Im beschriebenen Dreiecksgeflecht werden die Eltern und die Veränderung ihrer Lebenswelt durch die außerfamiliale Betreuung berücksichtigt – in der Forschungslandschaft ein bedeutendes Qualitätskriterium für Eingewöhnungsmodelle, besonders aufgegriffen im Münchner Modell. Charakteristisch ist hierbei für das Münchner Modell, dass in den ersten zwei Wochen alle relevanten Personen die Einrichtung besuchen, den Alltag miterleben und die Trennung erst im Anschluss erfolgt. Im Berliner Modell hingegen wird ein erster Trennungsversuch bereits am vierten Tag unternommen.

Beide Modelle setzen das einzugewöhnende Kind mit seinen Bedürfnissen in den Mittelpunkt des Geschehens. Das Münchner Modell fügt dem Dreiecksgeflecht – Kind, Bezugsperson, Fachkraft – die Kindergruppe hinzu. Man verfolgt die Annahme, dass das Kind sich selbst bzw. durch die anderen Kinder und durch ihre Interaktionen eingewöhnt. Die eingewöhnende Fachkraft hat einen weniger hohen Stellenwert, das Kind kann sich auch an anderen Fachkräften orientieren. Im Berliner Modell findet die Interaktion zu großen Teil zwischen Kind und Bezugs-Pädagog*in statt. Die anwesende Kindergruppe wirkt aber auch hier unterstützend. Die Bezugsperson nimmt im Berliner Modell eher eine passive Rolle ein.

Ein Unterschied zwischen den beiden Modellen springt direkt ins Auge: Während das Berliner Modell meist auf 14 Tage bis ca. vier Wochen angelegt ist, dauert das Münchner Modell mit seinen fünf bis sechs Wochen erheblich länger. Dadurch ist es für die meisten Einrichtungen weniger praktikabel und organisatorisch schwieriger umzusetzen, auch wenn es an sich gleichzeitig kindzentrierter wirkt als das Berliner Modell.

Beide Modelle sind an den Entwicklungsthematiken für Kinder im U3-Bereich orientiert, lassen sich aber in Abwandlungen auch für ältere Kinder anwenden. Im Rahmen einer Eingewöhnung sind ein Agieren entlang der kindlichen Bedürfnisse und ein Einbeziehen ALLER Beteiligten sinnhaft und wünschenswert. Erprobt und erfolgreich umgesetzt sind beide Modelle. Die meisten Einrichtungen orientieren sich an dem einen oder anderen Modell, bringen aber ihre eigenen Gegebenheiten mit ein. So ist auch das Eingewöhnungsmodell der element-i-Pädagogik ans Berliner Modell angelehnt. Was man tun kann, wenn eine Eingewöhnung nicht „nach Plan“ läuft, und welche Herausforderungen mit einer Eingewöhnung für Sie als Pädagogen und auch die beteiligten Eltern verbunden sind, greifen wir im nächsten Newsletter auf.

Literatur

Bauer, M.; Klamer, K. & Veit, M. (2009): „So gelingt der Start in die Kita!“ Bindungsorientierte Eingewöhnung. In: Textor, M. R. & Bostelmann, A. (Hrsg.): Das Kita-Handbuch. https://www.kindergartenpaedagogik.de/images/PDF/1985.pdf (zuletzt aufgerufen am 9.4.2020)

Roßbach, H.-G.; Kluczniok, K. (2006): Institutionelle Übergänge in der Frühpädagogik. In: Fried, L. & Roux, S. (Hrsg.): Pädagogik der frühen Kindheit. Weinheim und Basel: Beltz, S. 298-311

Spieß, T. (2016): Eingewöhnung nach dem „Münchener Eingewöhnungsmodell“. In: Textor, M. R. & Bostelmann, A. (Hrsg.): Das Kita-Handbuch. https://www.kindergartenpaedagogik.de/fachartikel/gestaltung-von-uebergaengen/uebergang-von-der-familie-in-die-tagesbetreuung/2348 (zuletzt aufgerufen am 9.4.2020)

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