Bindung – das wichtigste Bedürfnis eines Kleinkindes

Menschliche Neugeborene sind im Vergleich zu anderen Lebewesen sehr lange nicht in der Lage, sich selbst zu versorgen. Eine andere Person ist für den Säugling also zwingend notwendig. Nach der allgemein anerkannten ethnologischen Bindungstheorie (John Bowlby) sind zwei Gründe dafür zu nennen: Zum einen ist für ein Neugeborenes die menschliche Nähe und Wärme, verbunden mit Zuneigung, unerlässlich. Hieraus entwickelt sich später eine emotionale Bindung. Zum anderen geht es für das Neugeborene ums Überleben. Es sendet daher Signale aus, die die Bindungspersonen (in der Regel die Eltern) in der Nähe halten und zur Fürsorge anregen. Die Bindungspersonen sorgen entsprechend direkt für die Versorgung durch Nahrung für das Neugeborene, das zweite unerlässliche Bedürfnis. Eine Abwesenheit der Bindungspersonen bedeutet für das Baby direkt existentielle Not, da die Versorgung gefährdet scheint.

Bindungsphasen

Die erwähnten ersten Signale sind anfangs Weinen, Schreien und undefiniertes Greifen, das später gezielter wird, ebenso wie das erste Lächeln mit ca. 4-6 Wochen. Ab diesem Lebensalter beginnt auch die eigentliche Bindungsphase, das Kind erhält eine erste Ahnung davon, dass seine Signale Auswirkungen auf den Gegenüber haben und entwickelt eine erste Beziehung zu den vertrauten Personen, die es nun auch langsam an Geruch, Stimme und Äußerem erkennt. Die Bindung, die auch die Eltern erst im Verlaufe der Schwangerschaft und über die Geburt hinweg zu ihrem Kind aufbauen müssen, festigt sich in dieser Zeit: Das erste Mal von seinem Kind zum Beispiel bewusst angelächelt zu werden, trägt hierzu massiv bei. Fragen Sie mal Ihre Eltern oder erinnern Sie sich an Ihr eigenes Kind.

Eine erkennbare Bindung zeigt sich dann ab ca. dem 6. Lebensmonat. Das Kind beginnt aktiv die Nähe seiner Bezugspersonen zu suchen. Bezugspersonen ist bewusst im Plural gehalten, da das Baby sehr wohl in der Lage ist, zu verschiedenen Personen eine Bindung aufzubauen, diese hat nur unterschiedliche Qualitäten und Dimensionen. Die Mutter bleibt meist die Hauptbindungsperson, direkt gefolgt vom Vater (auch hier gibt es Unterschiede in den Dimensionen, das Bindungsverhalten verändert sich über die Zeit). Von den Bezugspersonen aus beginnt das Baby zunehmend – auch verbunden mit erweiterten motorischen und kognitiven Fähigkeiten – seine jeweilige Umgebung zu erobern und in seiner Welt zu explorieren. Die Bezugspersonen dienen dabei als sichere Basis. Bindung kann nun als eine lang andauernde, emotionale Beziehung zu vertrauten Personen definiert werden, die Schutz und Unterstützung bieten.

Im Laufe der ersten zwei Lebensjahre verändert sich das Bindungsverhalten des Kindes. Es erweitert durch zunehmende motorische, kognitive und sprachliche Kompetenzen sein Lebens- und Sozialumfeld und kann die Nähe zur Bindungsperson dadurch besser regulieren und einschätzen – durch Verhandeln oder auch das Einbeziehen der Absichten der Anderen.

Qualität einer Bindung

Selbstverständlich kann es unterschiedliche Bindungs-Qualitäten geben. Die bekanntesten sind sicher die durch Mary Ainsworth beschriebenen, die eine sichere und drei unsichere Bindungsarten unterscheidet. Beeinflussend für die Qualität der Bindung sind verschiedene Faktoren: Es muss eine Gelegenheit zum Bindungsaufbau vorhanden sein, die Qualität der Fürsorge ist entscheidend, und – eng verbunden mit dem Bindungsstatus der Eltern und der familiären Situation – der Säugling hat nicht zuletzt eine Persönlichkeit, die sich auswirken kann.

Warum schreiben wir diesen Artikel für Sie? Die Betreuung von Klein- und Kleinstkindern ist eine Notwendigkeit für viele Eltern und kann künftig ein Thema werden, das auch gesellschaftlich gelöst werden wird. Ein Verständnis von Bindung in den ersten Lebensmonaten ist für eine gelingende Eingewöhnung in diesem Alter unerlässlich. Wir wollen Sie anregen die momentane Gelegenheit zu nutzen und weiter in die Tiefe zu gehen:

  • Informieren Sie sich über die Bindungstypen von Ainsworth und wie sie diese herausgefunden hat (Stichwort: Der Fremde-Situation-Test)!
  • Diskutieren Sie mit Ihren Kollegen: Haben Sie schon sicher gebundene Kinder erlebt? Woran machen Sie dies fest?
  • Welche Anforderungen und Herausforderungen ergeben sich durch die unterschiedlichen Bindungsphasen mit Blick auf die Eingewöhnung? Was brauchen besonders die von uns betreuten Kleinst-Kinder, um ihrem Bedürfnis nach Sicherheit und Geborgenheit zu entsprechen? Sind Ablauf und Gegebenheiten in Ihrem Kinderhaus daran angepasst?
  • Welche Rolle nehmen Sie als Pädagogin in der Bindungsbiographie eines Kindes ein? Sprechen wir hier von einer echten Bindung, oder bewegt man sich im institutionellen Rahmen eher auf der Ebene einer Beziehung?
  • Wer gehört zum Bindungsverhalten des Kindes mit dazu – wen muss man „mit eingewöhnen“? Was hat möglicherweise das Bindungsmuster des Kindes geprägt?
  • Welche Ängste haben Eltern (und Kinder) bei einer Eingewöhnung? Wie können Sie diesen (auch im Vorfeld) kompetent begegnen? Was brauchen Eltern, um ihr Kind vertrauensvoll in Ihre Hände zu geben?
  • Die Bindungsmuster nach Ainsworth lassen sich in allen Kulturen nachweisen, allerdings mit unterschiedlicher Verteilung. Woran kann dies liegen? Welche Bedeutung hat dies für das Bindungsverhalten der betreuten Kinder aus anderen Kulturen?

Beachten Sie, dass auf die Fragen nicht immer eine pauschale Antwort gegeben werden kann – betrachten Sie das Kind individuell! Fremd-betreute Kinder weisen tendenziell eine sichere Bindung auf (auch wenn sie manchmal nicht so erscheint). Die erwähnten Einflussfaktoren für eine gelingende Bindung zeigen Ihnen aber, wie viel Individualität im Bindungsaufbau steckt und spielen für die sichere Bindung in einer Institution eine bedeutende Rolle. Erfragen Sie dies bei der Eingewöhnung mit Mutter oder Vater!

Literatur:
Berk, L. E. (32005): Entwicklungspsychologie. München: Pearson. Kap. 6.4.
Zimmermann, P. (2007): Bindungsentwicklung im Lebenslauf. In: Hasselhorn, M. & Schneider, G. (Hrsg.): Handbuch Entwicklungspsychologie. Göttingen: Hogrefe.
Fuhrer, U. (2005): Lehrbuch Erziehungspsychologie. Bern: Huber. Kap. 9.
Siegler, R. S.; DeLoache, J. & Eisenberg, N. (2005): Entwicklungspsychologie im Kindes- und Jugendalter. München: Elsevier, Spektrum Akademischer Verlag. Kap. 11.

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