Kunstbetrachtungen berühren Prozesse der Identitätsbildung und Sinnstiftung
Auch bei Kindern rufen Bilder starke Wahrnehmungseindrücke und emphatisches Erleben hervor. Ganzkörperliche und emotionale Reaktionen von Kindern auf ästhetische Phänomene sind bereits im frühkindlichen Alter zu beobachten (vgl. Weiser 1994). Begegnung mit Überraschendem löst bei Kindern den Wunsch nach Verstehen aus und beflügelt ihre Vorstellungskraft. Die Anregungen und Auseinandersetzungen mit Bildern führen Kinder zur Konstruktion von neuen sensorischen, kognitiven, emotionalen und sozialen Wahrnehmungsmustern. Damit Kinder den Zugang zum Bild suchen, mutig in das Bild eintauchen und über das Erlebte erzählen, benötigen sie passende Anlässe.
Das sogenannte „kompetente Sehen“ im Sinne einer bewussten und erkenntnisträchtigen Wahrnehmung bedarf Unterstützung und praktischer Übung. Museen und Ausstellungen sind wunderbare Orte, künstlerische Werke zu betrachten und auf sich wirken zu lassen. Ein anderer, einfach herstellbarer Erfahrungsraum, um künstlerische und bildnerische Erkenntnisse zu erleben, ist das Bilderbuch. Ebenfalls auch ein ästhetischer Gegenstand.
Es bietet Grunderfahrungen, wie Farb-, Form-, Schrift- und Materialgefühl, und lässt auf unerschöpfliche Weise wahrnehmen, analysieren und deuten. Das Kind übt sich darin zu sehen, zu erleben, zu erkennen und zu interpretieren. Es lernt dadurch auch, in der Bilderwelt des eignen Alltags besser zurecht zu kommen und an der kulturellen Vielfalt aktuell und zukünftig aktiv teilzuhaben.
Bilderbücher als Grundstein für die spätere ästhetische Wahrnehmung
Neben Bilderbüchern mit Text und Bild, welche immer eine Einheit bilden, erzählen textfreie Bilderbücher ausschließlich mit Bildern. Meist zeichnen sie sich durch erzähldramaturgische und bild-künstlerische innovative Gestaltungstechniken aus und laden zu künstlerischen und bildnerischen Erfahrungsreisen ein. Bilderbücher ohne Text regen zum Nachdenken und zur kreativen Auseinandersetzung mit den visuellen und thematischen Inhalten an. Sie üben genaues Betrachten der Bilder und fördern eine tiefe Auseinandersetzung mit ihnen. Bilder erzählen oft in einer direkten „Sprache“, können provozieren, Fragen auslösen und irritieren, indem sie nähere Bestimmungen offenlassen. Es ist eine Einladung zum Versinken in eine Geschichte. Eine Geschichte ohne Bewertungen wie richtig oder falsch, offen für Interpretationen und alle Sichtweisen. Entsprechend groß ist die interpretatorische Freiheit des Betrachters: Nicht die Hauptfigur vermittelt die Geschichte, sondern die Betrachter*in, der die Bilder kognitiv verarbeitet, strukturiert und in einen übergeordneten Kontext narrativ miteinander verknüpft.
Eine besondere Form der textfreien Kinderbücher ist das Künstlerbuch. Es unterscheidet sich von anderen Bilderbüchern dadurch, dass es oft ein eigenständiges Kunstwerk ist. Das Buch als Kunstwerk bricht die konventionellen Vorgaben eines Bilderbuchs. Es experimentiert mit abstrakten Darstellungsweisen, meist nicht motivisch-figural, sondern häufig mit Formen, Farben, Schatten, Papierschnitten und verschiedenen Materialien. Das Bild zeigt z.B. nicht nur das Ergebnis, sondern den Prozess des Entdeckens und der Spurensuche des Künstlers. Dieser ästhetische Prozess ist stark von Offenheit und Neugierde und der Wahrnehmung von der Stimulanz des Materials geprägt. Kinder können sich mit den spannenden Erfahrungsprozessen auseinandersetzen, statt nur das Endprodukt zu sehen. Teilweise ist die klassische Leseart aufgehoben, und das Buch ist von allen Richtungen zu lesen (Milo Cvachs: Dans tout les sens) oder erlaubt auf jeder beliebigen Seite zu beginnen, um die Unendlichkeit des Lebenskreises hervorzuheben (Enzo und Lela Maris: Bücher ohne Worte). Es entsteht ein offenes sinnliches Erfahrungsfeld, in dem Geschichten auf andere Art entstehen. Bilder erzählen über sich selbst oder von der Arbeit des Künstlers. Die Abstraktion eröffnet ein Spannungsfeld zwischen narrativer Kohärenzbildung und bildnerischer Mehrdeutigkeit. Dadurch eröffnet sich ein enormer Interpretationsspielraum. Diese erlebten und lebendigen Erfahrungen regen die Kinder an, sich selbst auszuprobieren und selbst zu produzieren, sei es bildnerisch, musikalisch, dichterisch oder darstellerisch.
„Ästhetische Erfahrung bezieht sich nicht auf Kunsterfahrung, sondern ist ein Modus, Welt und sich selbst im Verhältnis zur Welt und zur Weltsicht anderer zu erfahren.“ (Gunter Otto, einer der einflussreichsten Kunstpädagogen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts)
Förderung von Kreativität und Dialogfähigkeit
Ein Bilderbuch sinnlich zu erfahren ist ein komplexes elementares Erleben. Diese Bilderschließung benötigt konzentriertes Einlassen und ein dafür passendes Setting. Begeben sich Kind und erfahrene Mitbetrachter*in/ Mitleser*in – ohne planbares Ergebnis – auf eine gemeinsame Bilderreise, können visuelle Gestaltungsinhalte und Sichtweisen frei entdeckt und erforscht werden. Die entstandenen Lesestrategien von abstrakten Formen, Farben und Materialien miteinander zu teilen, eröffnen Kind und Mitbetrachter*in einen unendlichen Erkenntnis- und Schaffensraum.
Das Teilen dieser mannigfaltigen Zugangsmöglichkeiten macht die Bilderbuchbetrachtung so wertvoll: Dem Kind wird deutlich, dass nicht immer alles eindeutig sein muss. Es lernt zu reflektieren, zu hinterfragen und kritisch zu betrachten. Seine eigenen Erkenntnisse dürfen anders sein als die der Mitbetrachter*in und beide dürfen sein. Künstlerische Bilderbücher motivieren Kinder auf experimentelle und kreative Weise, sich Gedanken, Ideen, Wahrnehmungen, Vorstellungen und Improvisationskraft zu erspielen. Sie regen die explorative schöpferische Entfaltungskraft an und das Interesse am Weg statt nur das Interesse an der Lösung. Jean Piaget war bereits in den 1970er Jahren überzeugt: „Kinder können ein viel breiteres Spektrum künstlerischer Gestaltung und Thematik aufnehmen, als das beschränkte und meist verniedlichende Angebot.“
Ich lade Sie ein, sich auf eine künstlerische Erfahrungsreise mit vielfältigen textfreien Bilderbüchern zu begeben. Machen sie sich mit Kindern auf die Suche nach Bilderbüchern, welche sich nicht auf den ersten Blick erschließen. Nehmen Sie Bildbände, Galeriekataloge, Plakate oder fehlerhafte bzw. lückenhafte Bilderbücher und gestalten Sie eigene Kinder-Künstlerbücher. Experimentieren Sie mit Ort, Methode und explorativ künstlerischen Wegen, improvisieren Sie mit Materialien. Und vor allem: berichten Sie mir über die Gestaltungsprozesse und Lösungen. Dokumentieren Sie bildnerischen Prozesse, Reaktionen und die Aktionen der Kinder. Teilen Sie Ihre Erkenntnisse und Erfahrungen mit Ihren Kollegen.
Literatur
Cvach, Miloš (2007): Dans tous les sens, 50 signierte und nummerierte Exemplare, handgefertigt
Kettel, Joachim (2003): Künstlerische Bildung nach Pisa – Neue Wege zwischen Kunst und Bildung. Athena-Verlag: Bielefeld
Krichel, Anne (2019): Textlose Bilderbücher. Waxmann: Münster, New York
Kunst zwischen Deckeln. Künstlerbücher. Book Arts. International. Ein Blog über Künstlerbücher. Abrufbar unter: https://bookarts.hypotheses.org/ (zuletzt aufgerufen am 28.7.2020)
Luhmann, Niklas; Baecker, Dirk; Bunsen, Frederick (1990): Unbeobachtbare Welt. Über Kunst und Architektur. Haux-Verlag: Bielefeld
Mari, Lela und Enzo (2009): Der Apfel und der Schmetterling, Moritz Verlag: Frankfurt am Main
Mari, Lela (2017): Ein Baum geht durch das Jahr, Beltz & Gelberg: Weinheim
Mari, Lela (1970): Die Henne und das Ei, Ellermann Verlag: Hamburg
Thiele, Jens (2000): Das Bilderbuch – Ästhetik, Theorie, Analyse, Didaktik, Rezeption. Verlag Isensee: Oldenburg
Piaget, Jean (1972): Sprechen und Denken des Kindes (= Sprache und Lernen Bd 1). Pädagogischer Verlag Schwann: Düsseldorf
Weiser, Norbert (1994): Laura und die Bilder. In: Selle, Gert (Hrsg.): Betrifft Beuys. Annäherung an die Gegenwartskunst. LKD Verlag: Unna