Wir leben in einer freien Gesellschaft, in der jede*r eigene Potenziale entfalten kann. Wirklich? Legen uns traditionelle Rollenzuschreibungen nicht gehörig fest? Ich denke ja. Und das große Problem dabei: Wir merken oft nicht einmal, dass wir Stereotype bedienen. Doch Kitas könnten dazu beitragen, Geschlechterrollenklischees aufzubrechen.
In der Schule war ich gut in Mathe und Physik. Wäre ich ein Mann, wäre ich heute wahrscheinlich Ingenieur. Ich bin aber eine Frau. Ich studierte Germanistik. Trotz mittelmäßiger Ergebnisse im Deutschunterricht traute ich mir das ohne Weiteres zu. Für den naturwissenschaftlich-technischen Bereich, war ich überzeugt, fehle mir hingegen jedes echte Verständnis – guter Noten zum Trotz.
Erzieher: oft spät berufen
Viele Männer können ähnliche Geschichten erzählen – insbesondere Erzieher. Die meisten landen nach der Schulzeit in einem technischen oder handwerklichen Beruf. Dass die Bildung, Erziehung und Betreuung junger Kinder ihre Berufung sein könnte, wäre ihnen nicht in den Sinn gekommen. Dabei merken sie oft schon als Jugendliche, dass ihnen die Aufgabe liegt. Sie sind in Sportvereinen als Trainer aktiv, kümmern sich um jüngere Geschwister oder arbeiten in den Sommerferien als Betreuer in Feriencamps. Erst mit zunehmender Lebenserfahrung, wachsender Selbsterkenntnis und größerem Selbstvertrauen kommt dann die Entscheidung: „Ich sattle um und werde Frühpädagoge.“
Innerliche „No-go-areas“
Wollen wir also wirklich, dass alles so bleibt? Dass es spezielles Spielzeug, eigene Farben, bestimmte Kleidung, Lebensmittel, Hobbys … für Mädchen und Jungen, für Frauen und Männer gibt? Wollen wir, dass sich unsere Kinder bei der Berufswahl auf das beschränken, was traditionell für ihr Geschlecht vorgesehen ist? Ich denke, dass wir uns durch diese Geschlechterstereotype selbst ein Korsett anlegen. Ich befürchte, dass wir unsere Potenziale oft nicht ausschöpfen – weil wir innerlich strikte „No-go-areas“ markiert haben. Schade eigentlich.
An den Interessen und Bedürfnissen der Kinder orientiert?
Die gesetzlich definierte Aufgabe von Kindertagesstätten ist es, die Entwicklung von Kindern zu eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeiten zu fördern und sich dabei an den Interessen und Bedürfnissen des einzelnen Kindes zu orientieren. Doch wer kindliche Willensäußerungen nur innerhalb bestimmter geschlechtstypischer Raster wahrnimmt und fördert, wird diesem Anspruch nur bedingt gerecht. Daher streben Kitas eine geschlechtersensible Pädagogik an, die stereotype Zuschreibungen vermeiden und Kindern so neue Entwicklungschancen und Handlungsspielräume eröffnen soll. Ein herausforderndes Unterfangen, das den Fachkräften viel Selbstbeobachtung, Reflexion und Verhaltensänderungen abfordert.
Studie zeigt, wie Fachkräfte Rollenklischees weitergeben
Wie subtil Erwachsene, die ja oft das Gefühl haben, Mädchen und Jungen gleich zu behandeln, Geschlechterklischees weitergeben und stärken, macht die sogenannte Tandem-Studie von Professor Holger Brandes und seinem Team an der Evangelischen Hochschule in Dresden deutlich. Von 2010 bis 2014 untersuchten sie, inwieweit sich das professionelle Verhalten von Erzieherinnen und Erziehern Kindern gegenüber unterscheidet. Schließlich wird die Forderung, mehr Männer in Kindertagesstätten zu beschäftigen, häufig auch damit begründet, dass sie anders mit Kindern umgingen. Erstaunlicherweise zeigt die Studie jedoch keine signifikanten Unterschiede im Verhalten weiblicher und männlicher Fachkräfte.
Was die Studie jedoch deutlich macht: Sowohl Männer als auch Frauen gehen anders mit einem Kind um, je nachdem, ob es sich um ein Mädchen oder einen Jungen handelt. Zum Beispiel beim Malen, Basteln, Werken: Mit Mädchen entstehen deutlich häufiger Subjekte (Kriterium: mit Augen), mit Jungen Objekte (ohne Augen). Außerdem reagieren die Fachkräfte stärker auf ein traditionell geschlechterrollenkonformes Verhalten von Kindern und verstärken es damit. Die eigenen Prägungen der Fachleute spielen dabei eine zentrale Rolle. Die Studienautor*innen beobachteten zudem, dass in Situationen, in denen sich eine Erzieherin mit einem Mädchen oder ein Erzieher mit einem Jungen ganz auf ein gemeinsames Projekt einlässt, aus dem geteilten Interesse heraus oft Momente besonderer Intensität und Verbundenheit entstehen. Die Projekte sind quasi immer rollentypisch. Kurz: Erzieherinnen greifen zu Perlen, Erzieher zu Unterlegscheiben.
Kinder sollen ihre soziale Geschlechterrolle selbst definieren können
Die element-i Kinderhäuser haben daher ein eigenes Kapitel „Gleichberechtigung der Geschlechter“ in die Konzeption aufgenommen. Dort steht unter anderem: „Gender Mainstreaming heißt für uns, dass jedes Mädchen und jeder Junge seine eigene soziale Geschlechterrolle konstruieren darf und soll und sich damit in unserer Mitte befindet. Diese Rolle ist nicht zwangsläufig mit Rollenstereotypen und biologischem Geschlecht verbunden.“ Was heißt das für die Praxis in den Kitas? Dort tragen gemeinsame Reflexionen im Team, genderbewusstes pädagogisches Alltagshandeln, für alle Geschlechter ansprechend gestaltete Räume und unter Diversitätskriterien gewählte Materialien dazu bei, Kindern Handlungsspielräume jenseits traditioneller Rollenzuschreibungen zu eröffnen.
Was halten die Eltern davon?
Vor einigen Jahren führten die element-i Kinderhäuser einrichtungsübergreifende Elternabende zum Thema „Genderpädagogik: Mädchen und Jungen – zwei Erziehungswelten?!“ durch. In der Diskussion zeigte sich: Die meisten Eltern vertreten eine eher traditionelle Haltung. Sie möchten ihre Kinder nicht dazu ermutigen, Dinge auszuprobieren, die nicht geschlechtsrollenkonform sind. Sie befürchten, dass ihre Kinder ausgegrenzt werden könnten, wenn sie sich unangepasst verhalten, oder dass sie sich dann nicht „normal“ entwickeln. Interessanterweise beziehen sich die Unsicherheiten vornehmlich auf Jungen. Mädchen gestehen die Eltern eher zu, dass sie sich an vermeintlich männlichen Verhaltensmustern orientieren. Wie sehen Sie das?
Übrigens: Vielleicht ist es Ihnen aufgefallen. Auf das Wort „Gender“ (soziales Geschlecht) habe ich in diesem Text weitgehend verzichtet. Mein Eindruck ist: Allein dieser Begriff lässt die Emotionen bereits hochkochen – noch bevor ein einziges Argument ausgetauscht ist. Warum reagieren wir bei diesem Thema so emotional?
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