Körperbewusstsein: Das bin ich und das kann ich!

Vielfältige Wahrnehmungs- und Bewegungserfahrungen sind für Kinder und ihre gesunde Entwicklung unabdingbar. Die zunehmende Nutzung von digitalen Medien und die starke Strukturierung des Alltags von Kindern sorgen dafür, dass essentielle Erfahrungen eingeschränkt werden. Die Corona-Pandemie verschärft diese Umstände leider vielfach noch. Die entwicklungsrelevanten Wahrnehmungs- und Bewegungserfahrungen haben weitreichende Bedeutung für die motorischen, sinnlichen und sozialen Fähigkeiten. Diese wiederum können sich entsprechend positiv oder negativ auf das Körperkonzept und das sich daraus speisende Selbstkonzept auswirken.  

Ein positiver Zugang zum eigenen Körper ist ein wesentlicher Faktor für eine gesunde psychische Entwicklung sowie Persönlichkeitsentwicklung. Menschen, die sich in ihrem Körper wohlfühlen, verfügen über ein positives Körperbewusstsein.

Körperbewusstsein als Schutzfaktor – der eigene Wert  

Das Körperbewusstsein kann definiert werden als gedankliches Konstrukt zur Einschätzung des eigenen Körpers und seiner Fähigkeiten. Für die Entwicklung des Körperbewusstseins bilden Körperbewegungen und sensorische Wahrnehmungen die Basis. Aus vielfältigen einzelnen Bewegungen und Empfindungen, sowie Interaktionen mit der Umwelt bildet sich das Bewegungsgedächtnis sowie die subjektive Körperwahrnehmung (Erscheinungsform, Bedürfnisse, Funktionsfähigkeit). Aus den Informationen, die im Bewegungsgedächtnis kontinuierlich verarbeitet, gespeichert und modifiziert werden, entwickelt sich die Körperpraxis, d.h. die Art und Weise des Umgangs mit dem eigenen Körper. Je nach Erfahrungen und Rückmeldungen zur Körperpraxis bildet sich ein bejahendes oder ein negatives Körpergefühl heraus.

Um die Fähigkeit zu erlangen, Dinge rund um seinen Körper beschreiben zu können, müssen im Kindesalter vielfältige sensorische Erfahrungen gemacht werden. Jede Wahrnehmung erweitert die bereits gespeicherten Verbindungen im Gehirn und ermöglicht mit zunehmender Zeit differenziertere Vorstellungen zur Funktionsweise des Körpers (vgl. Schneider 2012, S. 29). 

Kinder lieben körperliche Aktivitäten und erfahren darüber vielfältige Sinnesempfindungen. In ihren Bewegungen erfahren sie, wie sich Körperteile bewegen und zusammenspielen, was sich gut anfühlt und was unangenehm ist. Jede Bewegungsabfolge führt dazu, dass Einzelerfahrungen gesammelt und gespeichert werden. Je genauer die vorherigen Informationen gespeichert wurden, desto besser können neue Körperbewegungen gesteuert werden (vgl. Ayres 2016, S. 128ff). 

Die Entwicklung eines positiven Körpergefühls und das Wohlfühlen im eigenen Körper im Kindes– und Jugendalter sind die Voraussetzungen für einen pfleglichen und verantwortungsbewussten Umgang bzw. gesundheitsförderndes Verhalten auch im Erwachsenenalter (vgl. Schneider 2012, S. 14ff). Wer seinen Körper bereits als Kind liebenswert wahrnimmt, der wird auch in späteren Jahren, in der Pubertät, besser mit körperlichen Veränderungen zurechtkommenUnd es scheint noch einen weiteren Aspekt zu geben: wer seinen Körper achtet und damit gut umgehen kann, kann besser auf das körperliche Empfinden des Gegenübers achten (vgl. Haug-Schnabel 2001, S. 6ff.). 

Körper- und selbstbewusst 

Bei den Bewegungs- und Handlungsaktionen wird stets eine Kombination aus Informationen gespeichert: die eigenen Erfahrungen sowie die Rückmeldungen aus der Umwelt. Kindliche Bewegungsaktionen werden kommentiert, sowohl von Erwachsenen als auch von Kindern untereinander. Die Kommentare können Kinder bestärken, aber auch verunsichern. Es ist bedeutsam, die eigenen Kommentare bewusst und reflektiert einzusetzen. Wiederholt verletzende Kommentare verunsichern Kinder und führen zu reduzierten Bewegungen. Nicht selten entwickeln Kinder Strategien, sich vergleichbaren Situationen zu entziehen oder diese zu umgehen. Ein Kind lehnt beispielsweise eine Anfrage zum Mitspielen bei einem Bewegungsspiel ab und gibt vordass das Bein schmerztEigentlich möchte das Kind aber gerne mitspielen und ist unglücklichaber es hat vielleicht mehrfach erfahren, dass es nicht so gut ist wie andere Kinder bei diesen Bewegungsspielen 

Häufig hört man Kommentare zu Bewegungen wie „Du tust dir weh!“ oder „Fall nicht hin!“. In ihnen wird die Befürchtung zum Ausdruck gebracht, dass etwas schief gehen kann. Hier steht nicht die Empfindung an erster Stelle, sondern eine Befürchtung und die kann bremsen und ängstlich machen. Oder die Kinder finden ihren Mut genau dann, wenn keine Erwachsenen vor Ort sind und bei Schwierigkeiten potenzielle Helfer darstellen würden. Beim Herantasten an neue Bewegungsgrenzen brauchen Kinder Erwachsene als Unterstützer. Natürlich müssen Erwachsene Kinder auch auf Gefahren aufmerksam machen, aber nicht auf die Weise, dass Ängste geschürt und Bewegungsaktivitäten gehemmt werden 

Erwachsene können Kindern z.B. Informationen zur Verfügung stellen, mit welchen Möglichkeiten oder Grenzen bei ihrem Vorhaben zu rechnen ist oder unter welchen Voraussetzungen eine Sache gut gelingen kann. Dies ist auch eine Unterstützung für die Entwicklung des Körperbewusstseins. Dabei wird Zutrauen in die Fähigkeiten gesetzt, eigenständige Entscheidungen zu treffen, um die eigenen Grenzen besser einzuschätzen zu könnenBeispiele für zutrauende Aussagen wären: „Bei den rutschigen Steinen musst du besonders gut aufpassen!“ oder „Dort kannst du dich mit den Händen festhalten!“ Bei eindeutig riskanten Vorhaben und hoher Verletzungsgefahr ist es natürlich wichtig einzuschreiten und zu erklären, worin das Problem besteht. 

Die Förderung des Körperbewusstseins beeinflusst die Stärkung des Selbstbewusstseins bereits in jungen Jahren. Das Wissen über die eigenen körperlichen Möglichkeiten lässt Kinder den individuellen Handlungsspielrahmen erkennen und nutzen (vgl. Haug-Schnabel 2001, S. 6-9). 

Körperkontakt für Körperbewusstsein

Von Geburt an erfahren Kinder Körperkontakt über Tragen, Wiegen, Liebkosen, Trösten etc. Er ist die Basis für den Aufbau von Beziehungen. Kinder brauchen liebevolle Zuwendung, um sich selbst als wertvoll wahrzunehmen. Sie erkennen, dass es Zeiten gibt, in denen man Bezugspersonen sehr nah ist, und Zeiten, in denen viel Nähe als unangenehm empfunden wird. Sie erkennen, dass sie unterschiedliche und wechselnde Körperwünsche haben können. Erwachsene können Kindern helfen und sie ermutigen, ihr vorherrschendes Gefühl anzunehmen, sowie deren Bedürfnisse nach Körperkontakt akzeptieren (vgl. Haug-Schnabel 2001, S. 6-9)  

Erfahrungsräumen für Bewegung und Berührung haben eine große Bedeutung. Zu unterscheiden sind das aktive Berühren vom Berührt-Werden. Hier zeigt sich die intentionale Handlung im Gegensatz zur Wahrnehmung und Empfindung. Sowohl für die Beziehungsfähigkeit als auch für die Entwicklung eines positiven Körpergefühls ist die Qualität der Berührungen sehr wichtig, insbesondere ein stimmiger Körperkontakt, der an den Bedürfnissen (des Kindes) ausgerichtet ist. Die körperliche Neugier und Lust auf Berührungen bei Kindern führen bei vielen Erwachsenen zu Beklommenheit und Unsicherheit. Häufig ist bei den Erwachsenen die eigene Biografie mit den Körpervorstellungen und -erfahrungen handlungsleitend. Damit beeinflussen sie wiederum die Kinder bei deren Entwicklung ihres Körperbewusstseins (vgl. Rohrmann; Wanzeck-Sielert 2018, S. 13ff). Die subjektive Sicht auf den eigenen Körper kann sich auf spätere Körperkontakte und Interaktionen in Bezug auf Berührungen auswirken. Diejenigen, die mit ihrem Körper unzufrieden sind, neigen dazu, Körperkontakte zu verringern, damit ihre Unsicherheit nicht zum Vorschein kommt (vgl. ebd., S. 27). 

Kinder erfahren durch Körperkontakte  

  • wo ihre körperlichen Grenzen liegen, 
  • an welchen Stellen sie gerne berührt werden möchten,  
  • an welchen Stellen andere gerne berührt werden möchten (vgl. Rohrmann; Wanzeck-Sielert 2018, S. 23f) 

Geschlechtsspezifische Körpervorstellungen 

Schneider (2012) hat sich in ihrer Studie mit geschlechtsspezifischen Selbsteinschätzungen von Kindern auseinandergesetzt und herausgefunden, dass sich geschlechtsabhängige Fehleinschätzungen zur Körperwahrnehmung bereits im Kindesalter ausprägen und manifestieren. Gesellschaftliche Normen und Klischees wie beispielweise vom „starken Jungen“ und „hübschen Mädchen“ beeinflussen bereits im Kindesalter die Körperwahrnehmung.  

Eine frühzeitige Unterstützung bei der Ausbildung und Stabilisierung eines positiven Körpergefühls ist insbesondere vor dem Hintergrund wichtig, dass die Körperzufriedenheit in der Pubertät bei vielen Jugendlichen abnimmt. Bis dahin sollten Schutzfaktoren ausgeprägt worden sein und Kinder erlebt haben, dass ihr Körper so, wie er ist, gut ist. Im Alltag gilt es, sensibilisiert hinzuschauen, wie Mädchen und Jungen mit ihrem Körper umgehen und welche Gemeinsamkeiten/Unterschiede es im körperlichen Verhalten von Mädchen und Jungen gibt (zum Beispiel beim Explorieren, bei riskanten Vorhaben, beim Suchen und Genießen von körperlicher Nähebeim (körperlichen) Austragen von Konflikten) und entsprechend vorurteilsbewusst und reflektiert zu unterstützen (vgl. Rohrmann, Wanzeck-Sielert 2018, S. 29). 

Annette Schneider (2012) hat in ihrer Dissertation Kinder malen lassen, welche Vorstellungen sie über ihr Körperinneres haben. Nach meiner Erfahrung haben Kinder ein großes Interesse daran, über ihren Körper zu sprechen. Greifen Sie dieses Interesse auf und verbinden Sie es mit sensorischen Körpererfahrungen. Und ganz nebenbei: die korrekte Benennung von Körperteilen ist eine wesentliche Prävention zum KinderschutzMit einer differenzierten Sprache können Kinder verbalisieren, wenn sie übergriffigeVerhalten erlebt habenErmutigen Sie auch die Eltern, positiv mit ihren Kindern über den Körper und ihre Körperteile zu sprechen.  

In einigen unserer Kinderhäuser wird aktuell mit der „Starke Kinder Kiste“ der Hänsel und Gretel Stiftung gearbeitet. Auch hier wird der Fokus darauf gelegt, dass Kinder erfahren, wie wertvoll ihr Körper ist. Wenn Sie Interesse an dem Projekt „Starke Kinder Kiste“ haben, melden Sie sich gerne bei Franziska Pranghofer oder mir.   

Literatur:  

Ayres, A. Jean (2016): Bausteine der kindlichen Entwicklung. Sensorische Integration verstehen und anwenden – Das Original in moderner Neuauflage. Berlin, Heidelberg 

Haug-Schnabel, Gabriele (2001): Körperbewusstsein fördern – Selbstbewusstsein stärken. Aus ZeT – Zeitschrift für Tagesmütter und -väter, Jg. 5, S. 6-9  

Rohrmann, Tim; Wanzeck-Sielert, Christa (2018): Mädchen und Jungen in der Kita. Körper – Gender – Sexualität. Stuttgart  

Schneider, Annette (2012): Das Körperbewusstsein bei Kindern und Jugendlichen. Entwicklung, altersabhängige Ausprägung und Einfluss auf Gesundheitsförderung und Gesundheitsprävention. Dissertation an der Universität Freiburg.

Mehr von Katja Behres

Kommentare

  • Laura und Sean, 11. Juni 2021 Antworten

    Danke für den Post. Jeder von uns kennt den wertvollen Spruch: Man lernt nie aus. So ist es vom Kind auf der Wunsch nach mehr Wissen in allen Bereichen des Lebens zu erlangen. Somit wird die Kreativität in einer Person geweckt.

    Auch in der Natur kann man die Motorik super fördern.

    Liebe Grüße,

    Laura

Kommentar

Deine Email-Adresse wird nicht veröffentlicht. Pflichtfelder sind mit * gekennzeichnet.