„Sexualität ist das, was wir daraus machen“

Mara genießt es, ihren Körper zu erkunden. Noch besser geht das Erkunden zu zweit, gemeinsam mit Björn. Was man da alles entdecken kann? Karl geht gern mit Emil zur Toilette, weil sich die beiden Jungs dort ungestört betrachten wollen. Körpererkundungsspiele sind ein wichtiger Teil der psychosexuellen Entwicklung und für Kinder im Kita-Alter ein wichtiges Erfahrungsfeld.

Bei unseren Recherchen und der Arbeit an einem Sexualpädagogischen Konzept sind wir, eine Gruppe aus Teamleitungen und Pädagogischen Leitungen, auf viele Themen gestoßen, die in dem Konzept ihren Platz finden sollten: Kindliche Sexualität, Psychosexuelle Entwicklung, geschlechtliche Vielfalt, geschlechterbewusste Pädagogik, Körpererkundungsspiele, Kinderrechte und Prävention. Das Konzept soll eine Orientierung für das pädagogische Handeln bieten und darüber hinaus einladen, eigene Gedanken zu reflektieren und für den Alltag sensibilisiert zu sein. In diesem Artikel finden Sie eine Auswahl an Themen aus dem Konzept.

Sexuelle Sozialisation

In der Sexualpädagogik geht es nicht nur darum, über Fakten und Zusammenhänge der menschlichen Sexualität zu informieren, sondern vielmehr um die Begleitung und Unterstützung der Kinder bei der Entwicklung eines positiven Körperbildes und einer für sie stimmigen Geschlechtsidentität. Ziel ist, dass die Kinder das Selbstvertrauen entwickeln, verantwortlich gegenüber sich selbst und anderen handeln zu können, die eigenen Bedürfnisse zu kennen und sichere Beziehungen einzugehen (vgl. WHO-Regionalbüro für Europa und BzgA 2011, S. 22ff).

Sexuelle Sozialisation umfasst vielfältige Erfahrungen des ganzen Körpers, der Beziehungen und Interaktionen. Demzufolge findet sexuelle Sozialisation täglich in vielen Situationen statt. Erwachsene sind Vorbilder, auch durch ihr nonverbales Verhalten, wie beispielsweise beim Ausdruck von Rollenbildern, Emotionen, Zärtlichkeit. Auch wenn über Sexualität geschwiegen wird, werden den Kindern Informationen vermittelt (vgl. WHO-Regionalbüro für Europa und BzgA 2011, S. 39).

Stellen Kinder Fragen zu Sexualität oder zeigen sie Verhaltensweisen, die ein Interesse daran erahnen lassen, ist es wichtig, darauf einzugehen und Antworten zu geben. Vermeiden, ausblenden und tabuisieren – ein Umgang dieser Art sorgt oft für das Gegenteil: Kinder suchen sich dann eigene Wege, ihr Interesse an Sexualität auf andere Weise nachzugehen, beispielsweise im Verborgenen. Dadurch wird eine gute Begleitung bei den kindlichen Lernprozessen erschwert oder verhindert (vgl. Maywald 2018, S. 70).

Viele Eltern haben die Sorge, dass Sexualaufklärung dazu führe, dass sexuelle Aktivitäten früher und häufiger stattfinden oder Kinder sexualisiert werden. Sexualaufklärung jedoch fördert die Kompetenzen, mit sexuellen Gefühlen, Gedanken, Wünschen und Ausdrucksformen selbstbestimmt, verantwortlich und gesund umzugehen. Forschungsergebnisse (unter anderem der UNESCO-Bericht) zeigen auf, dass der erste Sexualverkehr bei aufgeklärten Jugendlichen eher später stattfindet als bei nicht aufgeklärten, dass die Anzahl an Sexualpartner*innen reduzierter und das Schutzverhalten beim Geschlechtsverkehr ausgeprägter ist (vgl. BzgA 2011, S. 24).

Mit Blick auf die Menschenrechte sind sexualpädagogische Themen Pflichtaufgaben, gehören zur Gesundheitsfürsorge und sind aufzugreifen, wenn Kinder Interessen zeigen. Kindern soll es möglich sein, eine positive Einstellung zu ihrem Körper zu entwickeln und darüber zu kommunizieren. Dazu gehört es, z.B. die korrekten Bezeichnungen der Geschlechtsteile zu kennen und verwenden zu können (vgl. WHO-Regionalbüro für Europa und BzgA 2011, S. 39).

Sexualität als zentraler Aspekt des Menschseins

Die Definition der World Health Organization (WHO) und der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BzgA) verdeutlicht, welche Aspekte Sexualität beinhaltet.

Im Alltag wird der Begriff Sexualität oft eingeschränkt wahrgenommen und auf Körperlichkeit, Geschlechtsverkehr und Fortpflanzung reduziert, obwohl es beispielsweise auch um die Persönlichkeit und Gesundheit des Menschen geht. Vergegenwärtigen muss man sich, dass Sexualität ein zentraler Aspekt des Menschseins ist und im gesamten Lebenslauf eine wesentliche Rolle spielt. Jede Lebensphase hat ihre jeweiligen Schwerpunkte und Ausdrucksformen (vgl. WHO-Regionalbüro für Europa und BzgA 2011, S. 18). So unterscheidet sich kindliche Sexualität grundlegend von der Sexualität der Erwachsenen und ist gekennzeichnet durch spielerisches Entdecken des eigenen Körpers mit allen Sinnen und darauf ausgerichtet, sich im jetzigen Moment in seinem Körper wohlzufühlen (vgl. Maywald 2018, S. 17f). Was alle Lebensphasen vereint, ist das Bedürfnis nach Geborgenheit und verlässlicher Liebe (vgl. WHO-Regionalbüro für Europa und BzgA 2011, S. 18).

Es ist spannend sich anzuschauen und zu hinterfragen, welche Normen und Werte im jeweiligen Kulturkreis vorherrschen, d.h. die Art und Weise wie Geschlecht, Geschlechtsidentität und sexuelle Orientierung wahrgenommen und bewertet werden. Mit der Einteilung in zwei vorherrschende Geschlechter ist eine Vielzahl an geschlechtsbezogenen Erwartungen und Vorschriften verbunden.

Geschlechterbewusste Pädagogik

„Michael, zieh das Prinzessinnen-Kostüm aus, du bist doch ein Junge“, „Marlene, sollen wir dir ein lila- oder rosafarbenes Shirt kaufen?“, „Jonathan, warum hast du denn Nagellack auf deinen Fingernägeln?“, „Jungs, möchtet ihr mit in die Werkstatt gehen?“ Kennen Sie solche oder ähnliche Aussagen? Im Alltag werden Kindern Informationen über ihr soziales und biologisch zugewiesenes Geschlecht vermittelt. Es schwingen Erwartungen an ihre Geschlechterrolle mit und beeinflussen somit die Entwicklung ihrer Geschlechtsidentität.

Der Begriff Geschlecht beinhaltet zwei Dimensionen: die biologische Voraussetzung, also das körperliche Geschlecht (englisch: sex) sowie die soziale Zuweisung in Form der gesellschaftlich-kulturellen Ausdrucksform (englisch: gender). Biologische Merkmale sagen nichts darüber aus, wie die eigene Geschlechtszugehörigkeit subjektiv erlebt wird oder wie ein Mensch seine Geschlechtlichkeit lebt und nach außen hin präsentiert. Die Geschlechtsidentität bezeichnet das Wissen und Bewusstsein, einem Geschlecht anzugehören. Die Erwartungen der Gesellschaft an männliches bzw. weibliches Verhalten werden über die geschlechtstypische Sozialisation vermittelt werden (vgl. Maywald 2018, S. 25).

Eine geschlechterbewusste Pädagogik zielt darauf ab, auf stereotypische Sichtweisen und geschlechtsspezifische Zuschreibungen zu verzichten. Kinder brauchen Chancen, ihre eigene Geschlechtsidentität zu entwickeln, ohne dass Zuschreibungen ihre Erfahrungsmöglichkeiten einschränken. Gleichzeitig ist es bedeutsam, (geschlechtsbezogene) Unterschiede zu berücksichtigen und anzuerkennen. Hier zeigt sich ein Spannungsfeld auf: einerseits sind Jungen und Mädchen gleich, haben die gleichen Rechte und den gleichen Anspruch, ihre Potentiale zur Entfaltung zu bringen. Andererseits sind Jungen und Mädchen verschieden, haben eine unterschiedliche körperliche Entwicklung und verschiedene Interessen und Verhaltensweisen (vgl. Maywald 2018, S. 74).

Die Entwicklung der Geschlechtsidentität beginnt in den Jahren vor Schuleintritt. Einerseits sind Kinder passive Empfänger von gesellschaftlichen Rollenzuschreibungen durch beispielsweise Bücher, Filme, Spiele. Auf der anderen Seite sind Kinder aktive Gestalter ihrer Geschlechtsidentität und wählen sich die Angebote aus, die in ihrem Umfeld möglich sind (vgl. Maywald 2018, S. 66).

Im sexualpädagogischen Konzept weisen wir darauf hin, dass Kinder vielfältige Geschlechterrollen wahrnehmen und ausprobieren dürfen, d.h. dass Michael selbstverständlich das Prinzessinnen-Kostüm anziehen darf, dass Marlene Shirts in anderen Farben als lila und rosa auswählen darf, dass Jonathan seine Nägel lackieren darf und Mädchen in der Werkstatt kreativ sein dürfen. Um ein Spektrum an Möglichkeiten und gleiche Chancen zu erhalten, muss sensibel wahrgenommen werden, wie Geschlechterrollen gelebt, wie Sprache eingesetzt und wie Spielmaterialien und Bücher ausgewählt werden. Wie sensibel sind Sie für (unbewusste) Stereotype im Kinderhaus und wie gehen Sie damit um?

Was uns noch wichtig ist

Im Sexualpädagogischen Konzept befinden sich Informationen zur psychosexuellen Entwicklung und kindlichen Sexualität. Fundiertes Wissen erleichtert es, kindliche Verhaltensweisen zu verstehen und gut zu begleiten. So ist es beispielsweise nicht ungewöhnlich oder besorgniserregend, wenn Kinder im zweiten/dritten Lebensjahr ihre Genitalien untersuchen und freudig zeigen. Kinder haben ein großes Interesse an ihrem Körper und am Körper der anderen. Mit allen Sinnen entdecken und erforschen sie, stellen Gemeinsamkeiten und Unterschiede fest und erkennen Zusammenhänge. Kinder genießen Berührungen und erkennen mit zunehmenden Erfahrungen (z. B. bei Körpererkundungs- und Rollenspielen) die eigenen Bedürfnisse. Hierin liegt ein großes Potential, persönliche Grenzen zu erkennen, diese mitzuteilen und einzufordern. Es ist wichtig, Kinder ernst zu nehmen und darin zu unterstützen, dass sie diejenigen sind, die über ihren Körper bestimmen dürfen. Kinder müssen erfahren können, dass ihr Körper ihnen gehört, ihre Empfindungen und Gefühle wertvoll sind und nur sie sagen können, wie sich etwas in ihnen anfühlt! Neben Fachwissen sind ein wahrnehmendes Beobachten, didaktische Kreativität und eine gute Kommunikationskultur erforderlich. Zudem spielt die Selbstreflexion eine entscheidende Rolle, da das eigene Verhalten durch die eigene Biografie und sexuelle Erfahrungen und Erinnerungen beeinflusst werden (vgl. Wanzeck-Sielert 2013, S. 571ff.).

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Literatur

Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BzgA) (2011): Standards für die Sexualaufklärung in Europa. Köln

Maywald, Jörg (2018): Sexualpädagogik in der Kita. Freiburg

Offit, Avodah (1979): Das sexuelle Ich. Ullstein

Wanzeck-Sielert, Christa (2013): Sexualerziehung in Kindertageseinrichtungen. In: Schmidt, Renate-Berenike; Sielert, Uwe (Hrsg): Handbuch Sexualpädagogik und sexuelle Bildung. Weinheim

WHO-Regionalbüro für Europa und BzgA (2011): Standards für die Sexualaufklärung in Europa. Rahmenkonzept für politische Entscheidungsträger, Bildungseinrichtung, Gesundheitsbehörden, Expertinnen und Experten. Köln

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