Die Stammgruppe in den element-i Kinderhäusern wird für die Kinder gebildet, deren Interesse über den angebotenen Rahmen des Nests hinausgeht. Im ersten Lebensjahr des Kindes steht die Beantwortung des Bindungsbedürfnis des Säuglings im Vordergrund – der Autonomieanspruch des Kindes ist hier gering. Das Kind ist auf zuverlässige Bindungspersonen wie seine Eltern und/ oder außerfamiliäre Betreuungspersonen angewiesen und benötigt viel Unterstützung bei der Erfüllung primärer Grundbedürfnisse, wie Essen, Schlafen oder Nähe. Werden die Kinder älter, verändern sich auch die Anforderungen an die Lebenswelt Kita. Je älter ein Kind wird, desto mehr geht es um das Zutrauen von Entwicklungsschritten sowie die Annahme und Regulierung des kindlichen Autonomiebedürfnis. Etwa zwischen 1,5 und 2,5 Jahren entsteht bei den Kindern der Drang, die Welt um sich herum entdecken zu wollen. In dieser Altersspanne wachsen nahezu alle Kinder in den element-i Einrichtungen vom Nestbereich in die Stammgruppe und von dort flexibel in den offenen Kitabereich. Ein nach Autonomie (Selbstbestimmung, Selbstwirksamkeit, Selbstständigkeit) strebendes Kleinkind kann eine Herausforderung sein. Umso bedeutsamer ist es, sich immer wieder in die kindliche Perspektive hineinzuversetzen, um das eigene pädagogische Handeln an die jeweilige Entwicklungsphase anpassen und Verständnis für das kindliche Verhalten entwickeln zu können. Um den Stammgruppenprozess bestmöglich umsetzen zu können, ist das Wissen um die kindlichen Bedürfnisse während der Autonomiephase unabdingbar.
Autonomiephase in der kindlichen Entwicklung
„Bindung stärkt die kindliche Autonomie: der Gedanke, dass man ein kleines Kind durch Nähe und Geborgenheit verwöhnen könnte und dessen Unselbstständigkeit befördere, ist grundsätzlich falsch“ (Bongertz/ Retz 2021, S. 47).
Die Autonomiephase beginnt mit ungefähr 18 Monaten. Das kleine Kind erkennt sich erstmals selbst im Spiegel. Diese Selbsterkenntnis kann als Ausgangspunkt für das menschliche Streben nach Autonomie angesehen werden. Kinder entwickeln zunehmend einen eigenen Willen, äußern Wünsche und Vorstellungen. Das Streben nach Autonomie endet niemals und somit gibt es auch keine Altersspanne, die das Ende dieser Entwicklungsphase markiert. Ab dem Vor- und Grundschulalter reift das kindliche Gehirn schubweise und viele Kinder werden ab diesem Alter „vernünftiger“ und können mögliche Folgen ihres Verhaltens besser abschätzen. Zudem haben ältere Kinder Erfahrungen gesammelt, die das eigene Kompetenzerleben bestärkt haben, während ein Kind zwischen 1 bis 3 Jahren noch häufig die frustrierende Erfahrung macht „ich will das unbedingt allein schaffen, aber es gelingt mir einfach nicht“ (vgl. Bongertz/ Retz 2021).
Die Bedeutung der Autonomiephase für das pädagogische Handeln
Häufig geht die Autonomiephase mit intensiven und wechselhaften Gefühlen des Kindes einher. Dies ist nachvollziehbar, da vieles zum ersten Mal erlebt wird und auch die damit verbundenen Reize sehr intensiv sind. So hat beispielsweise ein zweijähriges Kind einen hohen Autonomieanspruch und ist gleichzeitig auf liebevolle und zuverlässige Bezugs- und Bindungspersonen angewiesen, die bereit dazu sind, regulierend und unterstützend die Gefühlsstürme auszuhalten und zu begleiten. Viele Kleinkinder neigen zu Wutausbrüchen. Einerseits entstehen diese, weil das Kind auf verbaler Ebene noch nicht so gut ausdrücken kann, was es möchte oder wie es ihm gerade geht. Das vermeintliche kindliche „Trotzen“ lässt sich vor allem auf die kindliche Gehirnentwicklung zurückführen. Um unsere Emotionen regulieren zu können, benötigen wir Menschen den präfrontalen Kortex. Das ist das kognitive Gehirn (Neokortex) und vor allem der Bereich, der im Stirnbereich oberhalb der Augenhöhle angesiedelt ist. Mit diesem können wir unter anderem aggressive Impulse beherrschen. Ausgerechnet dieser Bereich ist bei Babys und Kleinkindern rudimentär entwickelt und muss erst durch Übungen und wiederholte Erlebnisse zum Funktionieren gebracht werden. Bei einem für das Kleinkind erlebten Stresserlebnis, wie ein unangekündigter Spielabbruch oder ein ausgesprochenes Verbot durch einen Erwachsenen, übernimmt das emotionale Gehirn die Kontrolle und lässt daher das Kind instinktiv und impulsartig reagieren. Es wirft sich z.B. auf den Boden, schreit, spuckt, haut – ist emotional völlig außer sich zu sein. Somit trotzt das Kind in solchen Situationen nicht, sondern reagiert auf das Stresserlebnis aufgrund seines kognitiven Entwicklungsstandes altersentsprechend. Zwischen einem und vier Jahren benötigen Kinder die zuverlässige Unterstützung von außen. Autonomie und Bindung hängen zusammen: Nur durch Maßnahmen wie die empathische Fremdregulation durch Bindungspersonen kann Eigenregulation entstehen und sich zunehmend entwickeln (vgl. Graf / Seide 2021, S. 20ff.).
Autonomie im Kinderhaus fördern – aber wie?
Durch das individuelle Anerkennen des kindlichen Wunsches nach Autonomie kann das Kind wachsen und bleibt nicht abhängig und unselbstständig. Prozesse, wie das Rauswachsen aus dem Nestbereich in die Stammgruppe, müssen in einem ersten Schritt das kindliche Bedürfnis nach Verbundenheit in Form von verlässlichen Beziehungen und einem klar strukturierten, verstehbaren und wertvollen Alltag erfüllen, wie es auch die konzeptionelle Beschreibung der Leitlinie (verbundene) Autonomie vorsieht (vgl. Kammerlander et al. 2018, S. 7). Mit dem Wissen um die Entwicklungsphasen, in denen sich die Kinder befinden, sollten die Bedürfnisse nach Autonomie und Verbundenheit für die Ausgestaltung der Stammgruppe gleichermaßen im Fokus stehen.
Im Nest erhalten die Kinder durch ihren fest zugeordneten Raum und die verantwortlichen Bezugspersonen einen stabilen, gleichbleibenden Rahmen. Haben die Kinder die Sicherheit gefunden, die sie brauchen, werden bereits im Nest entsprechende und raumerweiternde Impulse angeboten. Häufig bildet sich aus mehreren Kindern des Nestbereichs eine “neue” Stammgruppe, oder sie ergänzen eine bereits bestehende Stammgruppe. Dabei kann entweder eine vertraute Betreuungsperson aus dem Nestbereich die Hauptverantwortung für die Stammgruppe übernehmen, indem sie gemeinsam mit den Kindern rauswächst, oder eine Betreuungsperson aus dem offenen Kitabereich.
Dem Nest entwachsen
Um autonom explorieren zu können, benötigt es diese sichere Basis für die Kinder. Entscheidend dabei sollte sein, ob ein Kind, individuell betrachtet, zufrieden und glücklich wirkt. Der Explorationsradius und Mut des Kindes werden dabei vom Temperament beeinflusst. So wird es Kinder geben, die für sich zufrieden im Sand spielen. Ein extrovertiertes Kind hingegen ist gerne mit anderen zusammen, blüht durch diese soziale Interaktion auf und stürmt bspw. mit anderen zur Rutsche. Wie eng die Stammgruppe im Kitaaltag begleitet werden sollte, hängt also stets von den Kindern ab. Einzelne Kinder brauchen eine kürzere Orientierungsphase in der Stammgruppe und können und wollen sich nach wenigen Wochen frei im Kinderhaus und nach ihren Interessen bewegen. Andere Kinder brauchen einen für sie überschaubaren und Sicherheit gebenden Kitaalltag über mehrere Monate hinweg, um sich sicher und selbständig im Kitaaltag zu fühlen. So ist zentrale Aufgabe der Betreuungspersonen, das einzelne Kind intensiv zu beobachten und aufgrund der Verhaltensweisen und Signale des Kindes individuell zu entscheiden, welcher Rahmen der geeignete ist. Um Beziehungen und Erfahrungen über die Stammgruppe hinaus aufbauen und sammeln zu können, empfiehlt es sich, dass einzelne Kinder allein an einer Intensivphase in einem Raum oder mit einer Pädagog*in ihrer Wahl teilnehmen können und sich so zunehmend als selbstwirksam erfahren.
Weitere Entwicklungsschritte ermöglichen
Wichtig ist, dass die Kinder der Stammgruppe von Beginn an die Möglichkeit haben, alle Funktionsbereiche der Kita flexibel und autonom zu erkunden und nicht als starre und feste Gruppe definiert werden. Um Kindern autonome Erfahrungen und Teilhabe zu ermöglichen, sollten sie daher selbstständig und individuell entscheiden dürfen, wie und wann sie sich flexibel aus der Stammgruppe herauslösen. Die Kinder wollen oft „allein“ die Welt erobern, brauchen aber in bestimmten Situationen die liebevolle und verlässliche Begleitung von Bezugspersonen. Die verbalen und nonverbalen Signale des Kindes sind durch die Betreuungspersonen stets zu beobachten, um das pädagogische Handeln responsiv danach ausrichten zu können. Unerlässlich dafür ist, dass alle Betreuungspersonen im Kinderhaus über den Stammgruppenprozess informiert sind und die Erwachsenen die Verantwortung für den Beziehungs- und Bindungsaufbau zu den Kindern übernehmen, so dass diese flexibel und frei aus der Stammgruppe in den offenen Bereich hineinwachsen können.
Nutzen Sie hierfür regelmäßig Settings wie Teamsitzungen, die Bildungsmatrix, Kindbesprechungen, um einen ganzheitlichen Blick auf ein Kind zu bekommen und das ganze Team über die Entwicklungsschritte der jeweiligen Kinder zu informieren. In Bezug auf die Entwicklungsthemen der jüngeren Kinder in der Einrichtung ist es hilfreich, Raumgestaltung, Materialauswahl und Impulsthemen aus kindlicher Perspektive zu bewerten und mit Blick auf das kindliche Bedürfnis nach Autonomie entsprechend anzupassen – besonders wenn für die Stammgruppenkinder bisher wenige Möglichkeiten zur Teilhabe vorhanden gewesen ist.
Literatur
Bongertz, Christiane; Retz, Eliane (2021): Wild Child. Entwicklung verstehen, Kleinkinder gelassen erziehen, Konflikte lösen. München: Piper
Graf, Danielle; Seide, Katja (2021): Das gewünschteste Wunschkind aller Zeiten treibt mich in den Wahnsinn. Der entspannte Weg durch die Trotzphase. Weinheim: Beltz
Kammerlander, Carola; Rehn, Marcus; Pädagogischer Leitungskreis der element-i Kinderhäuser (2018): Pädagogische Konzeption für die element-i Kinderhäuser. Stuttgart.