Wir sind, wer wir sind – Wie sich die Persönlichkeit entwickelt 

“Wie entsteht Persönlichkeit? Wieviel davon ist genetisch bedingt, wieviel beeinflussbar?”, fragte kürzlich eine Pädagogin im Rahmen einer Fortbildung. Das sind höchst spannende und interessante Fragen, gerade weil wir die Kinder in den ersten sechs Lebensjahren aktiv begleiten und Einfluss auf ihre Persönlichkeitsentwicklung nehmen. Dazu hat die Biopsychologie, die sich mit anatomischen und physiologischen Grundlagen menschlichen Verhaltens und Erlebens befasst, wichtige Grundlagen erforscht.

Frühkindliche Einflüsse und die Bildung von Synapsen

Wie funktioniert das Gehirn? Ein gesund entwickeltes Gehirn ist bei der Geburt darauf ausgelegt, dass es maximal aufnahmefähig ist. Es wartet auf Außenreize, die in chemische und elektrische Signale umgewandelt und über die Nervenzellen in die unterschiedlichen Gehirnareale transportiert werden Ein Säugling besitzt nahezu die gleiche Anzahl an Nervenzellen wie ein erwachsener Mensch. Bei der Anzahl an Verknüpfungen zwischen den Nervenzellen gibt es einen entscheidenden Unterschied. Mit dem folgenden Vergleich wird dieser Unterschied leicht nachvollziehbar: Stellen Sie sich ein Blatt Papier mit 1000 Punkten (Nervenzellen) vor. Einige dieser Punkte sind durch Striche (Synapsen) miteinander verbunden. Diese Metapher soll das Gehirn eines Säuglings nachbilden, das sich in der Folgezeit rasant entwickelt. Nun stellen Sie sich das gleiche Blatt Papier mit ebenfalls 1000 Punkten vor, aber jeder Punkt (Nervenzelle) ist durch viele Striche (Synapsen) mit anderen Punkten verbunden. Dieses Bild visualisiert das Gehirn eines erwachsenen Menschen.

Wie entstehen nun die Synapsen oder die Striche? Natürliche Reifeprozesse und der Anregungsgehalt aus der Umgebung lassen ein Netzwerk zwischen den Nervenzellen durch Synapsen entstehen, die zudem in Wechselwirkung zueinanderstehen (Pauen 2004, S. 525).

Das möchte ich an einem Beispiel verdeutlichen. Stellen Sie sich einen Fötus im Mutterleib vor. Die Augen sind meist geschlossen, die Umgebung ist reizarm. Ab dem Tag der Geburt ändert sich die Umgebung augenblicklich. Das Gehirn reagiert auf die Umgebung, die Reize werden über die Sinnesorgane, in dem Fall die Augen, wahrgenommen, diese Informationen über die Nervenzellen weitergeleitet und im Gehirn verarbeitet. In Folge entstehen neue Verbindungen (Synapsen), was zur Folge hat, dass sich das Gehirn entwickelt und seine Struktur verändert. Und nun stellen Sie sich vor, das Kind ist blind. Die Reize können nicht in gleicher Form weitergeleitet werden, da das Auge wegen eines Defekts des Sehnervs dazu nicht imstande ist. Die Gehirnstruktur entwickelt sich in Folge anders, die neuronalen Verbindungen ebenso, da das Gehirn erkennt, dass keine Informationen am visuellen Kortex ankommen. Die Ausbildung neuer Synapsen nimmt an diesen Stellen stark ab. Bestehende Verbindungen werden vom Gehirn genutzt, um andere Sinnesinformationen weiterzuleiten.

Zusammengefasst holt das das Gehirn aus dieser Situation das Beste heraus, ohne unnötig weitere Ressourcen – zum Beispiel die aktive Bildung weiterer Synapsen in dieser Hirnregion – zu nutzen. Das Beispiel zeigt, wie wichtig Außenreize sind und welche unmittelbaren Auswirkungen diese Reize auf die Gehirnentwicklung haben. Das Muster ist bei der Persönlichkeitsentwicklung das gleiche, nur betrifft es andere Hirnregionen.

Die Rolle des limbischen Systems in der Persönlichkeitsentwicklung

Betrachten wir nun die Neuro- und Entwicklungspsychologie, die Aufschluss über die Zeitfenster der lernsensiblen Entwicklungsphasen gibt (= Erfahrungen in einem bestimmten Alter, die prägend sind und Auswirkungen auf das gesamte weitere Leben haben können). Das Modell der „vier Ebenen der Persönlichkeit im Gehirn“ liefert uns wichtige Anhaltspunkte für die Pädagogik. Im Zentrum der Persönlichkeitsentwicklung steht das „Limbische System“, welches dafür bekannt ist, dass es ein stark vernetzter Teil des Gehirns ist (Großhirn, Zwischenhirn). In diesen Bereichen werden Emotionen, Motivationen, Ich-Erleben, Angst- und Wutreaktionen sowie Speicherung emotionaler Inhalte verarbeitet. Entscheidend ist, dass die Persönlichkeit im Kern durch die erste und zweite limbische Ebene im Kern definiert wird (Zeitfenster = 4 Lebensjahre). Die untere limbische Ebene ist überwiegend durch vorgeburtliche Einflüsse determiniert. Dazu zählen genetische Einflüsse sowie Einflüsse während der Schwangerschaft (Lebensstil, Lebensumstände, Ernährung etc.). Grundlegende Persönlichkeitseigenschaften wie Offenheit, Optimismus, Risikobereitschaft oder Kreativität werden in dieser Phase angelegt und sind postnatal kaum beeinflussbar. Die mittlere Ebene ist jene Ebene der unbewussten und nicht erinnerbaren emotionalen Konditionierungen (bis zum 3. Lebensjahr). Sie betrifft die emotionale Prägung zu Bindungspersonen sowie emotionales Lernen. Welche Lernerfahrungen hat das Kind mit den Bindungspersonen gemacht und welche Emotionen wurden damit verknüpft? Diese Phase ist entscheidend für die Entwicklung des Selbstkonzeptes und hat direkte Auswirkungen auf die Gehirnentwicklung im Groß- sowie Zwischenhirn.

Die Lebenserfahrung in den ersten drei Jahren sind prägend, die Grundausrichtung der Persönlichkeit verfestigt sich. Die Erfahrungen sind in Teilen bewusst, werden aber überwiegend nicht erinnert. Das Grundkonzept der Persönlichkeit ist im Kern angelegt (Roth 2019, S. 10ff.). Mit Abschluss des 3. Lebensjahres ist die Persönlichkeitsentwicklung demnach bereits so weit fortgeschritten, dass sie “lediglich” auf einer emotional sozialen sowie auf einer kognitiv sprachlichen Ebene noch weiter verfeinert wird. Anders ausgedrückt sind die ersten drei Lebensjahre entscheidend für die Persönlichkeitsentwicklung. Wie nimmt sich das Kind in diesen Jahren wahr? Welche Rolle hat es in der Familie? Wurde es wertgeschätzt? Wurde es geliebt? Wurde es herausgefordert? Wurde es unterstützt? Wurde es zur Selbstständigkeit erzogen? Welche Lebenserfahrungen hat es gemacht? Ist es selbstbewusst etc.? Das Selbstbild, welches das Kind entwickelt, ist entscheidend, wie dessen Persönlichkeitseigenschaften mit Leben gefüllt werden. In der element-i Konzeption steht dazu: “Die ersten Lebensjahre eines Menschen sind seine lernintensivste Zeit. Sämtliche physischen, psychischen, kognitiven, sozialen und moralischen Bildungs- und Entwicklungsaufgaben nehmen hier ihren Anfang und bilden wiederum die Grundlage für die individuelle weitere Aufbauarbeit, Ausdifferenzierung und Potentialentfaltung. Diese bedingen und beeinflussen sich gegenseitig und wirken immer zusammen.“ (Kammerlander et al. 2018, S. 19)

Der Erziehungsstil und die Gestaltung der Persönlichkeit

Parallel zu den ersten beiden Ebenen entwickeln sich in der oberen limbischen Ebene sowie der kognitiv-sprachlichen Ebene “höhere Prozesse” bis in das Erwachsenenalter hinein. Die oberste limbische Ebene steht für das bewusste emotional-soziale Lernen. Die vierte kognitiv-sprachliche Ebene repräsentiert insbesondere höhere Prozesse, wie Reflexion des eigenen Handels, Sinnbewusstsein etc.
Die Prozesse, die innerhalb der oberen limbischen Ebene stattfinden, sowie die kognitiv-sprachliche Ebene sind maßgeblich davon beeinflusst, wie sich die Persönlichkeit in den ersten beiden Ebenen entwickelt. Daher ist entscheidend, welches Selbstbild und Selbstverständnis die Kinder in den ersten Lebensjahren entwickeln. Dabei ist es vollkommen unerheblich, ob man beispielweise eine extravertierte oder introvertierte Persönlichkeit hat. Die Frage, die von Interesse ist, lautet: Wie wird die Persönlichkeitseigenschaft mit Leben gefüllt? An dieser Stelle ist aus meiner Perspektive ein klarer Erziehungsauftrag abzuleiten, dem wir mit dem element-i Erziehungsstil begegnen, indem wir mit den Kindern authentisch, dialogisch und kohärent interagieren.

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Literatur

Kammerlander, Carola; Rehn, Marcus; Pädagogischer Leitungskreis der element-i Kinderhäuser (2018): Pädagogische Konzeption für die element-i Kinderhäuser. Stuttgart.  

Pauen, Sabina (2004). Zeitfenster der Gehirn- und Verhaltensentwicklung: Modethema oder Klassiker? Zeitschrift für Pädagogik, Juli/August, S. 525ff. 

Roth, Gerhard (2019). Wie werden wir, wer wir sind? Und was können wir im Laufe unseres Lebens noch daran ändern. Bremen: Institut für Hirnforschung der Universität Bremen. 

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