Anker der Geborgenheit: Die Stammgruppe als sicherer Hafen

Auf unseren Flüssen, Seen und Meeren sind viele unterschiedliche Schiffe unterwegs: große, kleine, Motor- oder Segelboote, touristische oder Handelsschiffe. Sie planen ihre Einsätze auf den für sie passenden Strecken und verfolgen eigene Ziele. Schiffe haben für ihre Ausfahrt auch die entsprechende Ausstattung. Doch ganz gleich, wie vielfältig die Schiffe und ihre jeweiligen Ausrüstungen sind: Sie nutzen dasselbe Gewässer und müssen von Zeit zu Zeit – bei Unwetter, Problemen mit der Ladung oder aus anderen Gründen – einen Hafen aufsuchen. Im sicheren Hafen gehen sie vor Anker und machen sich startbereit für neue Fahrten.

Der sichere Hafen

Sowohl in der Schifffahrt als auch in der Arbeit mit den Kindern bedeutet der „sichere Hafen“ einen verlässlichen, stabilen und Schutz bringenden Raum. Dies meint zum einen das Wissen darum, wo der Bezugspunkt verortet ist. Zum anderen besteht Wissen darüber, welche Funktionen der Ort bedient und welche Bedürfnisse dort gestillt werden können. In beiden Fällen sind dies vor allem Sicherheit durch Verlässlichkeit als auch die Möglichkeit, für neue Abenteuer aufzutanken. Zudem unterscheiden sich Häfen in ihrer Aufgabe. Viele Schiffe fahren auf ihrer Reise nicht nur einen Hafen an, sondern setzen ihren Anker an verschiedenen Orten.

Der Anker

Der Anker ist ein vielseitig genutztes Bild, welches häufig mit Stärke, Kraft und Widerstandsfähigkeit verbunden wird. Ein Anker hält das Schiff an seinem Platz. Auch hier zeigen sich die Parallelen zur Arbeit mit den Kindern: Wie der Kapitän des Schiffes bewusst den Anker setzt und damit über den Halt des Bootes entscheidet, so setzen auch die Kinder als ihr eigener Kapitän ihre Anker. Häufig zeigt sich dies in Form eines Kuscheltiers, Routinen und Ritualen, einer besonderen Bindung zu einer Person oder einem räumlichen Bezugspunkt.

Eine Auslegung der Anker für die Kinder formuliert der englische Kinderarzt und Psychoanalytiker Donald W. Winnicott. Er umschreibt diese Anker auch als Übergangsobjekte und bezeichnet damit Gegenstände, die für die Kinder zwischenmenschliche Beziehungen repräsentieren. Mit Hilfe dieser Objekte bewältigen viele Kinder die Herausforderung, „innere und äußere Realität voneinander getrennt und doch in wechselseitiger Verbindung zu halten“ (Winnicott, zitiert nach von der Beek 2006, S. 147). Oft werden solche Übergangsobjekte in der Zeit der Eingewöhnung bereits genutzt. Die Erfahrung zeigt, dass sie sich auch im Übergang vom Nest über die Stammgruppe zum offenen Konzept als hilfreich erweisen.

Der Stammgruppenbereich

Mit einer festen Bezugsperson und Übergangsobjekten ist jedoch der Raum für die Stammgruppenkinder noch nicht angemessen gestaltet. Die Assoziationen und Überlegungen dazu leiten uns zur konkreten Umsetzung. Es ergeben sich daraus Anforderungen an den Stammgruppenbereich und die Funktionsräume. Beginnen wir mit dem Stammgruppenbereich als primären sicheren Hafen für die Kinder.

Als Stammgruppenbereich sollte ein (Funktions-)Raum gewählt werden, der den Bedürfnissen der Kinder gerecht wird – und zwar den Kindern, die aus dem Nest entwachsen. Dies bezieht sich auf die Größe, die Gestaltung und die Auswahl der Materialien, die für die Entwicklungsschritte von Kindern im Alter von 1,5 bis 3 Jahren förderlich sind. Es lohnt sich zu überlegen, ob der Marktplatz oder die Forscherecke die Anforderungen erfüllt oder ob nicht beispielsweise das Lesezimmer – mit Materialien angereichert – passender ist. Auch die Lage des Bereiches beeinflusst den Übergang der Kinder in den offenen Bereich. Ist eine räumliche Nähe zu den anderen Funktionsräumen gegeben, unterstützt dies durch kurze Wege die Selbstständigkeit der Kinder. Nicht nur die Neugier der Kinder wird geweckt, auch bieten sich überwindbare Wege, sowohl ins „offene Meer“ zu segeln als auch schnell wieder den sicheren Hafen anzusteuern.

Wichtig ist zu beachten, dass eine sinnvolle Aufteilung des Bereiches für Frei- und Parallelspiel als auch An- und Entspannung möglich ist. Eine Auswahl von Materialien für die entsprechende Altersgruppe ist bedeutend und sollte bewusst eingesetzt werden. Hilfreich sind vor allem funktionsoffene Materialien, welche die thematische Ausrichtung des Raumes für die älteren Kinder beibehalten. Es wird dadurch aber die unterstützende Ausweitung der Tätigkeitsmöglichkeiten der jüngeren Kinder erreicht. Um den Bereich dennoch als Stammgruppenbereich zu verankern, sollten Identifikationsmöglichkeiten geschaffen werden. Es bieten sich beispielsweise Fotos der Stammgruppenkinder und der verantwortlichen Bezugspersonen an oder die bewusste Gestaltung von Wanddokumentationen. Plätze für Ankerobjekte der Kinder und Materialien, die für Rituale der Stammgruppe verwendet werden, sollten auch transparent und für die Kinder erreichbar angeboten werden.

Die Funktionsräume – auch im Stammgruppenprozess

Aus den Anforderungen an einen gelungenen Stammgruppenprozess ergeben sich neben dem verankerten Stammgruppenbereich gleichzeitig Überlegungen zu den Funktionsräumen. Der Übergang vom Nest in den offenen Bereich wird durch eine Attraktivität der Funktionsbereiche für die jungen Kinder wesentlich erleichtert.

Die Funktionsräume müssen hierfür die erste Voraussetzung erfüllen, entwicklungsangemessen für Kinder ab dem Stammgruppenalter gestaltet zu sein und keine zwingende Konzentration auf die Altersgruppe ab drei Jahren widerzuspiegeln. Prämisse ist hier, dass der Stammgruppenbereich als Basis und sicherer Hafen ausgelegt ist, die Funktionsräume dem Autonomiestreben und Kompetenzerleben der Kinder gerecht werden. Die Stammgruppenkinder sollen die Funktionsräume erkunden, indem sie entwicklungsgerecht Bezug finden und aufbauen können.

Wie kann dies gut gelingen? Alltags- und funktionsoffene Materialien sprechen alle Kinder an und bieten den jüngeren Kindern vielfältige Erfahrungsmöglichkeiten. Naturmaterialien reduzieren zudem die kognitive Komplexität der Anwendung und unterstützen das kindliche Spiel für die Stammgruppenkinder. Die bewusste und vorbereitete Umgebung im jeweiligen Funktionsbereich sollte auf alle Altersgruppen ausgerichtet sein und auch die jüngeren Kinder entsprechend anregen. In der Raumgestaltung und Materialauswahl ist nicht zuletzt die motorische und psychosoziale Entwicklung der Kleinkinder im Blick zu behalten. Denn daraus ergeben sich in klassischen Funktionsräumen Barrieren, welche den Bezug erschweren.

Der Weg eines Kindes aus dem Nest hin zum offenen Kinderhaus bietet viele spannende Herausforderungen für jedes Kind, welches sich – ähnlich wie ein Schiff – auf die Reise macht. Mit individueller Ausrüstung und auf unterschiedlichen Strecken begeben sich die Kinder auf ein großes Abenteuer. Um diesem kindlichen Erlebnis gerecht zu werden, bleibt Ihnen die Aufgabe, Häfen und Orte zu schaffen, um Anker zu setzen. Denn nur wer Sicherheit erfährt, ist für das Explorieren bereit. Und dies ist Grundvoraussetzung zur eigenständigen Erschließung des gesamten Kinderhauses.

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Literatur
von der Beek, Angelika (2006): Bildungsräume für Kinder von Null bis Drei. Verlag das Netz. Weimar, Berlin.

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