Die Natur als Freiraum

Im Sinne des Naturraumes und der Naturraumpädagogik widmen sich Gedanken aus Wissenschaft und Praxis der gelungenen Gestaltung von Außenbereichen in Kindertagesstätten. Es werden Sicherheitsrisiken abgewogen, die altersentsprechenden Kompetenzen der Kinder einbezogen, Bildungsbereiche verortet und bedürfnis- und interessensorientiert Spielmaterialien ausgewählt. Jeder dieser Aspekte ist richtig und wichtig. – Nicht allzu selten wird dabei aber der plausibelste Ansatz in den Hintergrund gestellt.

Das bekannte Kinderbuch „Frederick“ von Leo Lionni zeigt uns eine wahrhaftig schöne und achtsame Haltung im Sein mit der Natur. Hier können wir Erwachsene uns viel von den Mäusen aus der Geschichte oder auch aus der Beobachtung von Kindern abschauen.

Die fleißige Mäusefamilie bereitet den Sommer über die kalte Winterzeit vor: sammelt Körner, Heu und Nüsse. Frederick scheint derweil zu faulenzen. Doch auch er sammelt fleißig: Farben, Sonnenstrahlen und Worte. Der Mehrwert seines Sammelns für sich und die Mäusefamilie wird jedoch erst viel später bemerkbar, als Fredericks Worte und Bilder Trost und Freude spenden, während draußen der Schnee fällt und die Vorräte langsam zur Neige gehen.

Von Natur aus

Kinder brauchen Naturerfahrungen – im übertragenen Sinne brauchen sie die Möglichkeit zu „sammeln“. Die wohl angeborene Vorliebe der Kinder für Natur und die sich daraus ergebenden ästhetischen Präferenzen dienen dabei als Fundament (vgl. Haug-Schnabel/Bensel 2017, S. 164). Kinder bringen alles mit, was sie für die Auseinandersetzung mit der Natur brauchen: Neugier, Interesse und Lust am Entdecken und Ausprobieren. Vor allem in den jüngeren Jahren findet eine verstärkte Wahrnehmung über die Sinne statt. Das damit einhergehende Erfahren beschreibt Situationen, welche wir als Bildungssituationen charakterisieren. Kinder, die viel draußen sind, sich und die Welt in einer komplexen und wenig strukturierten Umwelt ausprobieren können, sind gesünder und weniger verletzungsanfällig (vgl. Renz-Polster/Hüther 2016, S. 164f.). Durch eigene Abenteuer gewinnen die Kinder gleichzeitig Sicherheit im Umgang mit sich selbst und der Natur und wachsen mit jedem Erlebnis über sich hinaus.

Jedes Kind findet seinen eigenen Zugang zu natürlichen Umgebungen und zeigt auf seine Art Faszination für Formen, Farben, sensorische Wahrnehmungen, Abhängig- und Regelmäßigkeiten. Die Natur oder auch der Garten bieten hier unzählige altersunspezifische Angebote. Spannend dabei ist, dass die Institutionalisierung von Erfahrungswelten der Kinder ausgehebelt scheint. Unabhängig vom Alter, der Herkunft, dem Entwicklungsstand und der aktuellen Situation des jeweiligen Kindes wird Bildung angeregt. Am besten ganz ohne unser vorbeugendes Zutun.

So förderlich pädagogisch geplante und vorbereitete Aktivitäten auch sein mögen, es bedarf einer individuellen und fokussierten Auseinandersetzung in der Natur. Der hierbei entstehende Erfahrungswert für jedes Kind zeigt sich als Mehrwert in der weiteren Entwicklung, wie oben beschrieben.

Wird eine Kindergruppe betrachtet, welche sich in einem Naturraum aufhält, so kann beobachtet werden, dass jedes Kind einen eigenen und für sich passenden Zugang findet. Die Natur schenkt pädagogischen Fachkräften ohne weitere Anstrengung eine exklusive Erfahrungswelt für jedes einzelne Kind. Unabhängig von der sensiblen Phase, in welcher sich ein Kind befindet, oder von den inhaltlichen Themen, die es bewegt, bietet die Natur viele Ansatzpunkte: das Erkennen von Geräuschen und Temperaturen, das Wahrnehmen von eigenen Empfindungen und Emotionen, das Ausprobieren der Sprache, das Erfahren von Mengen und Größenverhältnissen – alle Aspekte lassen sich dem jeweiligen Entwicklungsniveau entsprechend aus- und erleben. Impulse der Kinder können von der Kindergruppe oder begleitenden Mitarbeitenden spielerisch und authentisch aufgegriffen werden. Die Faszination und Freude der gemeinsamen Auseinandersetzung eröffnet weite Erfahrungswelten.

Frederick zeigt uns (s)einen Zugang zur Natur und verdeutlicht damit eine Möglichkeit, wie Kinder ohne „Zutun“ fleißig Fragen stellen.

„Wer streut die Schneeflocken? Wer schmilzt das Eis?
Wer macht lautes Wetter? Wer macht es leis?
Wer bringt den Glücksklee im Juni heran?
Wer verdunkelt den Tag? Wer zündet die Mondlampe an? (…)“ (Lionni 2003)

Die Natur als solches und der dahinterstehende Kreislauf von Tages- und Jahreszeiten, Wachstum und Rückgang beschert jeder Kindertageseinrichtung ein großes Geschenk, welches es anzunehmen gilt. Kinder brauchen Zeit – Zeit wahrzunehmen, Zeit auszuprobieren und Zeit, um Fragen zu stellen und Zeit für die gemeinsame Auseinandersetzung mit der Natur und all ihren großen und kleinen Wundern.

Literatur:

Haug-Schnabel, Gabriele; Bensel, Joachim (2017): Grundlagen der Entwicklungspsychologie. Die ersten 10 Lebensjahre. 17. Auflage. Freiburg im Breisgau: Verlag Herder.

Lionni, Leo (2003): Frederick. Weinheim: Beltz.

Renz-Polster, Herbert; Hüther, Gerald (2016): Wie Kinder heute wachsen. Natur als Entwicklungsraum. 4. Auflage. Weinheim: Beltz.

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