„Unsere Kinder brauchen die 4 Z: Zeit, Zuwendung, Zuneigung und Zutrauen“, sagt der Tübinger Philosoph Marco Wehr. „Alles andere können sie alleine.“ Warum das so ist und welche unglaublichen Leistungen Kinder in den ersten Lebensjahren vollbringen, um sich die motorischen Grundlagen und die Werkzeuge für die Welt des Wissens anzueignen, skizzierte der Buchautor kürzlich in einem Vortrag, den wir hier nachzeichnen.
Neulich hörte ich einen Vortrag, der mich beeindruckte und dessen Inhalte ich gerne mit Ihnen teilen möchte. Marco Wehr, ein in Tübingen lebender Physiker, Philosoph, Tänzer und Buchautor, referierte im Rahmen des Deutschen Kita-Leitungskongresses in Fellbach bei Stuttgart. Er sprach darüber, wie sich Kinder die „Werkzeuge für die Welt des Wissens“ aneignen.
Der Mensch ist besonders anpassungsfähig
Anders als die meisten Tiere kommt der Mensch hilflos zur Welt und muss grundlegende Fähigkeiten erst erlernen. Wir Menschen sind dadurch allerdings auch in hohem Grad anpassungsfähig. Einen jungen Eisbären in die Tropen zu verfrachten, würde ihn das Leben kosten. Wüchse ein Inuitbaby im Senegal auf, wäre das jedoch kein Problem. Die menschliche Gemeinschaft dort hat eine Kultur entwickelt, die es ihm erlaubt, in dieser speziellen Umwelt zu überleben und gibt sie an den Nachwuchs weiter.
Kultur als Überlebenscode
Der Mensch, so Wehr, sei ein Kulturwesen. Den breit gefächerten Kanon an Wissen und Fertigkeiten, den die Menschen sich aufgebaut haben, bezeichnet er als Kultom. Wie bei einem Genom handele es sich dabei um einen Überlebenscode. Er sei jedoch nicht in den Genen, sondern in den Gehirnen der Menschen gespeichert. Nachfolgende Generationen müssten ihn immer wieder neu lernen. Das gäbe ihnen jedoch auch die Chance, sich an veränderte Lebensräume anzupassen.
Um aber von der Kultur profitieren zu können, müssen Kinder erst die „Werkzeuge für die Welt des Wissens“ erwerben. Die wichtigsten sind:
Das Imitationslernen
Kinder sind wahre Nachahmungskünstler*innen. Wie sehr, das zeigt ein Experiment des amerikanischen Psychologen Winthrop Niles Kellogg aus dem Jahr 1931. Er zog das kleine Affenmädchen Gua gemeinsam mit seinem Sohn Donald auf, um herauszufinden, ob der Unterschied zwischen Menschen und Affen natur- oder kulturbedingt ist. Der kleine Affe erwies sich als überaus gelehrig und übertrumpfte den Jungen anfänglich sogar. Entscheidend war allerdings, dass nicht der Affe die Menschen nachahmte, sondern Donald Gua. Die wenigen Worte, die der Junge zunächst sprach, vergaß er. Er begann zu grunzen und zu schreien, klaubte Essenreste und Exkremente vom Boden auf und steckte sie sich in den Mund. Das Experiment lief aus dem Ruder. Der Vater musste es abbrechen. Der Mensch lernte am Vorbild des Affen und nicht umgekehrt.
Uns sollte daher bewusst sein: Wir sind Vorbilder – ob wir es wollen oder nicht. Kinder ahmen uns in allem nach, was wir tun. Dabei vollbringen sie eine sehr komplexe Leistung: Sie wandeln visuelle und akustische Eindrücke in eigenes Verhalten um.
Gesprochene Sprache
Erwachsene und mit zunehmendem Alter auch andere Kinder ordnen die Phänomene der Welt für die Kinder ein und bewerten sie. Dazu ist Sprache unerlässlich. Unterstützt wird der sprachliche Ausdruck durch den Körper des Menschen, der eine regelrechte „Kommunikationsoberfläche“ sei, wie Marco Wehr sagt. Durch seinen aufrechten Gang konnte der Mensch eine ausdrucksstarke Mimik und Gestik entwickeln. Weiße, gut sichtbare Handflächen sowie die weiß eingefasste Iris des Auges machen Hand- und Augenbewegungen zudem für ein Gegenüber gut sicht- und nachvollziehbar.
Sich daraus ihre Muttersprache zu erschließen, ist eine große Aufgabe, die Menschen aufgrund ihrer Hirnentwicklung nur in einer bestimmten Phase ihres Lebens gelingt. Erfahrungen mit in der Wildnis aufgewachsenen, sogenannten Wolfskindern zeigen, dass Menschen, die in ihrer frühen Kindheit keinen Kontakt mit Sprache hatten, später nicht mehr in der Lage sind, sprechen zu lernen. Für den aufrechten Gang trifft das übrigens ebenfalls zu.
Geteilte Aufmerksamkeit (Intentionalität)
Kleine Kinder und ihre Eltern verständigen sich oft mit Gesten. Das erscheint einfach. Ist es jedoch nicht. Denn damit die Verständigung gelingt, ist ein gemeinsamer semantischer Referenzrahmen nötig. Das bedeutet, dass ein gemeinsames Vorverständnis gegeben sein muss, um welches Thema es geht. Denn erst dadurch wird klar, welche Bedeutung zum Beispiel eine Zeigegeste hat und worauf die zeigende Person damit hinweisen will.
Empathie
In den ersten Jahren ist das Kind ganz auf sich bezogen. Erst nach und nach nimmt es die anderen als eigenständige Personen mit eigenen Bedürfnissen wahr und lernt, sich in sie hineinzuversetzen. Auch dies ist ein wichtiges Werkzeug, um einvernehmlich in einer Gemeinschaft mit anderen leben zu können.
Kinder sind Lerngenies
Marco Wehr sagt, Kinder bräuchten vier Dinge, um sich diese Werkzeuge des Wissens erarbeiten zu können: Zeit, Zuwendung, Zuneigung und Zutrauen. Alles andere brächten sie mit. Sie seien von Natur aus Lerngenies. Denn folgende Fähigkeiten zeichneten sie aus: eine unbändige Neugierde, eine hohe Misslingenskompetenz und eine unglaubliche Ausdauer. Sie wagten sich permanent auf neues, unbekanntes Terrain vor, scheiterten dabei regelmäßig und probierten es einfach immer wieder aufs Neue. Sie wiederholen Dinge immer wieder und stellen so sicher, dass sich Gelerntes festigen und nachhaltig verankern kann. Die Ausdauer die Kinder mitbringen, zeigt eine Geschichte seiner Tochter: Sie habe sich Hörspielkassetten gewünscht. Doch statt sie eine nach der anderen zu hören, habe sie die erste Kassette zwei Monate lang immer und immer wieder gehört. „Was von außen nach ‚immer das gleiche‘ aussieht, war für sie immer wieder anders“, berichtet Marco Wehr. „Denn erst nach und nach konnte sie sich auch zunächst unverständliche Inhalte erschließen.“
Was bedeutet das für Eltern?
Mütter und Väter seien gefragt, ihre Kinder mit Zeit, Zuwendung, Zuneigung und Zutrauen zu begleiten, sie an ihrem Leben teilhaben zu lassen und die Phänomene der Welt für sie und mit ihnen zu erleben und zu bewerten. „Die ersten drei Jahre benötigen die Kinder, um sich die Werkzeuge für die Welt des Wissens anzueignen. Das tun sie jeden Tag, 24 Stunden lang“, sagt Marco Wehr. „Für theoretische Inhalte haben sie keine Zeit. Die sollten später kommen.“ Kinder vor dem Fernseher oder Computer zu setzen, sei ebenfalls nicht zielführend. „Es fehlt die Kommunikation. Und es fehlen Bewegung sowie die unmittelbare Wahrnehmung der Lebensrealität“, sagt der Redner. Fernseh- und Computerkonsum beanspruchen das Sehen und Hören. Alle anderen Sinne kommen zu kurz.
Die größte Herausforderung für viele Eltern heute bestünde jedoch darin, das nötige Zutrauen aufzubringen, um Kinder Erfahrungen sammeln, dabei Risiken eingehen und Niederlagen erleben zu lassen. Marco Wehr bringt ein Beispiel aus eigener Anschauung: „Wenn sich ein Elternteil sein Kind auf den Schoß setzt und gemeinsam mit ihm die Rutsche heruntersaust, tut es sich zwar nicht weh, es lernt aber auch nicht, wie es geht zu rutschen.“
Buchhinweis
Ausführlich nachzulesen sind die Inhalte in Marco Wehrs Buch: Werkzeuge für die Welt des Wissens. Was Kinder lernen müssen, um lernen zu können, GRIN Verlag, 2021
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