Natur(raum) erfahren

»Natur ist kein Ort, der besucht wird, sie ist Heimat.« Gary Snyder  

Reisen wir in unseren Gedanken zurück zu glücklichen Kindheitstagen, zu den schönsten Erinnerungen, zu unserer inneren Heimat, landen wir zwangsläufig in der Natur. Der selbst errichtete Staudamm am Bach, das neue Zuhause für den Tausendfüßler, die selbstgebaute Hütte im Wald Die Natur hat zweifelsohne eine nahezu magische Anziehungskraft auf Kinder. So ist es nicht der neu angelegte Abenteuerspielplatz, sondern der dahinterliegende Wald, der die Kinder zum Spielen einlädt. Doch worin liegt diese Anziehungskraft begründet? Warum zieht es die Kinder in die Natur?  

Die Natur als Entwicklungsraum

Für uns Erwachsene ist die Natur meist ein Ort zum Entspannen, Entschleunigen und Erholen. Für Kinder jedoch ist sie weit mehr, sie ist Entwicklungsraum. Herbert Renz-Polster und Gerald Hüther beschreiben dies folgendermaßen: „Natur ist für Kinder so essenziell wie gute Ernährung. Sie ist ihr angestammter Entwicklungsraum. Hier stoßen die Kinder auf vier für ihre Entwicklung unverhandelbare Quellen: Freiheit, Unmittelbarkeit, Widerstandsfähigkeit, Bezogenheit“ (Renz-Polster/Hüther 2019, S. 9) 

Den größten Teil der Menschheitsgeschichte verbrachten wir draußen in der Natur. Auch die Kinder machten ihre essenziellen Lebenserfahrungen dort. Und heute? Heute wachsen Kinder nicht mehr in der Natur auf. Vielmehr findet diese kaum noch einen Platz in unserer modernen, strukturierten Welt. Und doch ist sie da, in den Spielen der Kinder – beim Bau von Höhlen und Hütten, beim Sammeln von Kastanien oder auch bei Urmotiven im kindlichen Spiel, wie der Jagd. Auch die vier Elemente sind immer wiederkehrende, beliebte Spielmotive insbesondere Feuer und Wasser haben eine unfassbar starke Wirkung auf Kinder. Man denke nur an ein Kleinkind, welches mit einem Wasserstrahl spielt. Vollkommen vertieft und hochkonzentriert, wieder und wieder versucht es, das Wasser aufzufangen, von seiner Bahn abzulenken, in einen Becher zu füllen (vgl. ebenda, S. 38f). 

Faszination Natur

Worin liegt dieser Reiz begründet? Welche besonderen Entwicklungsmöglichkeiten bieten sich in der Natur? Sie bietet eine besondere Vielfalt an verschiedenen Reizen für das Kind, ohne dass dies jedoch zu einer Reizüberflutung führt. Die Natur bietet durch ihre reiche Auswahl jedem Kind die angemessene Umgebung, um sich seiner jeweiligen Zone der nächsten Entwicklung zu stellen. Dabei müssen sie mit den Unwegsamkeiten der Natur umgehen – diese passt sich nicht den Bedürfnissen der Kinder an, sondern umgekehrt müssen sich die Kinder der Natur anpassen sie werden widerstandsfähig, resilient. Ich denke hier besonders an die Glücksmomente, die Kinder (und auch Erwachsene) empfinden, wenn eine Herausforderung nach zahlreichen Fehlschlägen gelingt und sich das befriedigende und prägende Gefühl der Selbstwirksamkeit einstellt. Im Umgang mit der Natur wird dabei in besonderer Weise ein ganzheitliches Lernen ermöglicht. Hier ist der, besonders für jüngere Kinder bedeutsame, sinnliche Zugang gegeben. Im Zentrum steht die Unmittelbarkeit der Erfahrungen. Ingrid Miklitz fasst dies folgendermaßen zusammen: „Der Naturraum bietet ideale Voraussetzungen für Erfahrungen an realen Objekten, Sinneserfahrungen aus erster Hand. Und diese Objekte verströmen je nach Tages- und Jahreszeit spezifische Düfte und Laute. Sie verändern ihr Aussehen im Tages- und Jahreslauf, erscheinen in wechselnden Lichtqualitäten immer wieder aufregend und anregend anders“ (Miklitz 2019, S. 33). Die Natur und ihre Phänomene regen die Kinder zum Forschen, Entdecken und Nachdenken an. Sie bieten den Kindern einen nicht vorstrukturierten Rahmen. Dadurch haben sie die Möglichkeit, sich frei zu bewegen, eigene Lernerfahrungen zu machen und somit in besonderer Weise Freiheit, Autonomie, aber auch, wie bereits erwähnt, Selbstwirksamkeit zu erleben. Sie können sich vollständig in ihrem Tun verlieren und mitunter sehr stimmige Situationen erleben. Situationen, die für die Kinder verstehbar, handhabbar und bedeutsam sind – kurz gesagt: kohärent. 

Eine besondere Bedeutung kommt der Kindergruppe selbst zu. Viele Herausforderungen, wie der Bau einer Hütte oder eines Lagers, lassen sich nur gemeinsam meistern. Die Kinder müssen als Gruppe agieren und erleben so Verbundenheit zu anderen Menschen. Dürfen oder sollen Kinder daher nur noch draußen sein? Nein, Außen- wie Innenräume haben ihre Daseinsberechtigung. „Manche Erfahrungen können am besten draußen gemacht werden, manche am besten drinnen. Manche drinnen und draußen. Es gilt also nicht die Welt draußen gegen die Welt drinnen in Stellung zu bringen (Renz-Polster/Hüther 2019, S. 64).  

Überträgt man dies auf die Bildungsbereiche, zeigt sich, dass einige Bildungsbereiche besonders von der Umsetzung „draußen“ profitieren. Wo lässt sich besser forschen und entdecken als in der Natur? Die Kinder stolpern hier nahezu über Naturphänomene, wollen diese ergründen und verstehen. Oder auch Bewegung? Keine noch so durchdachte Bewegungslandschaft kann jemals den Anreiz und die Vielfalt bieten, die die Kinder in der Natur vorfinden. Und auch die großen Fragen des Kreislaufes von Leben und Tod, Werden und Vergehen, stellen sich den Kindern vornehmlich draußen – wenn sie ganz einfach Menschen in der Welt sind. 

Blicken wir auf das Eingangszitat zurück: Bietet die Natur den Kindern eine Heimat? Herbert Renz-Polster und Gerald Hüther beantworten dies mit einem klaren Ja. „Wir haben gesehen, dass Kinder, wenn sie Zugang zu natürlichen Orten haben, daraus tatsächlich so etwas wie Heimat bauen können. Sie gehen Bindungen ein. Und die entstehen oft durch ganz einfache, unmittelbare Erfahrungen – Körpererfahrungen, Gerüche, über elementare Naturerfahrungen. Und das, was sie da spüren, macht es ihnen leichter, die Welt als einen Ort zu erleben, der es gut mit ihnen meint. Wann würden wir das mehr brauchen als heute?“ (Renz-Polster/Hüther 2019, S. 70). 

Quelle
Renz-Polster, Herbert; Hüther, Gerald (2019): Wie Kinder heute wachsen. Natur als Entwicklungsraum. Ein neuer Blick auf das kindliche Lernen, Fühlen und Denken. 5. Auflage. Weinheim, Beltz  
Miklitz, Ingrid (2019): Naturraum-Pädagogik in der Kita. Freiburg im Breisgau, Herder  
Anmerkung: Zitat von Gary Snyder, Umweltaktivist und Autor, gefunden bei Hartmut Krinitz. Abrufbar unter: https://www.hartmut-krinitz.de/gedanken-zitate.html (zuletzt aufgerufen am 26.7.2020) 

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