Jede*r von Ihnen war mit den Kindern der Einrichtung oder den eigenen Kindern schon einmal auf Entdeckungsreise – ob im Wald, auf dem Feld, auf dem Gehweg oder im Garten. Überall gibt es Spannendes zu entdecken. Sie machen sich dabei mit den Kindern nicht nur zum gemeinsamen Forschen auf, sondern geben den Kindern die Möglichkeit, sich als Teil eines großen Ganzen, als Teil der Welt zu fühlen, die sie umgibt. Ich möchte Ihnen die Möglichkeit geben, die Welt da draußen gemeinsam mit den Kindern (neu) zu entdecken und nehme sie mit in die Themenwelt von Menschsein in der Welt.
Auf meinen Wegen durch die Häuser erlebe ich wiederholt Situationen, in denen Kinder eine Spinne, Ameise oder Biene tot oder lebendig aufgefunden haben. Oft wird der Fund gemeinsam mit anderen genaustens untersucht. Es ist spannend zu entdecken, was so ein kleines Lebewesen in seiner Anatomie ausmacht, wie es aussieht oder wie es sich verhält. Und doch bringt so ein Moment noch viel mehr mit sich. Wenn über das Leben des Tieres gesprochen wird oder über sein Ableben, beginnen die Kinder, eine Vorstellung über den Kreislauf des Lebens zu entwickeln. Unter dieser „Menschsein-in-der-Welt-Brille“ die Umgebung zu entdecken, bringt neue Fragen mit sich, berücksichtigt andere Dimensionen vom Menschwerden in dieser Welt. Lassen Sie uns bei der Hinwendung zu Naturraumpädagogik einen Blick durch diese Brille wagen.
Der Naturraum gibt viele Anlässe, die Welt, in der wir leben, zu entdecken. Wenn es unser Ziel ist, Kindern die Möglichkeit zu geben, zu verstehen, wie die Dinge um uns herum funktionieren, dann ist der Naturraum dafür ideal (siehe Kron 2020, S. 5f.). Wenn wir im Naturraum unterwegs sind und suchen, was die Welt ausmacht, dann begegnen uns Themen wie Leben und Tod, wir sehen eine Menge anderer Lebewesen, sehen, wie sie leben, können sie mit anderen vergleichen, in Beziehung setzen und auch selbst ein eigenes Gefühl zu den Dingen, auf die wir treffen, aufbauen.
An einem einzelnen Tag in der Natur erleben wir, dass sich die Welt um uns herum ändert, es wird heller oder dunkler als vorher, es wird wärmer oder auch kälter als zuvor. Sind wir häufiger da draußen, beobachten wir, wie sich Bäume und deren Blätter verändern. Wir beobachten, dass auch Tiere sehr verschiedenen Tätigkeiten nachgehen, oder finden sogar ganz andere (saisonale) Tiere.
Expert*innen–Check: Hören Sie an dieser Stelle in sich hinein. Was für weitere Themen von Menschsein in der Welt fallen Ihnen ein, auf die Sie in der Natur treffen?
Um eine Vorstellung davon zu bekommen, was uns die Natur für Gelegenheiten und gleichzeitig Anknüpfungspunkte bietet und welche Dimensionen für Kinder an dieser Stelle wichtig sind, betrachten wir den Kontext. Beginnen wir im Kleinen:
element-i Impulse in der Natur werden begleitet oder gerahmt durch den Sonnenstand, von den Lichtverhältnissen, der Temperatur, dem Erscheinungsbild – also dem Zustand, wie es da draußen aussieht. Für Kinder sind das zunächst Sinneseindrücke, losgelöst von einem Gesamtzusammenhang, den wir Erwachsene diesem Sinneseindruck zuschreiben; häufig auch losgelöst von einem eigentlichen gesetzten Thema im Rahmen eines Impulses.
In ihrem Streben, die Welt verinnerlichen zu wollen, müssen die Kinder erst ein System innerer Ordnung herstellen. Grundlegend für den Aufbau dieser Ordnung sind sog. Vorläufererfahrungen: Um zu verstehen, was das Konstrukt Tag ist, brauche ich erst einmal eine Idee von Zeit. Zeit erlebt schon der Säugling: Zeiten, in denen Berührungen stattfinden, Zeiten, in denen keine Berührungen stattfinden. Zeiten, in denen Bewegung stattfindet, Zeiten, in denen es nicht so ist. Zeiten, in denen Geräusche hörbar sind oder jemand spricht, und Zeiten, in denen es ruhig ist. Nur hat der Säugling dafür noch keine Begriffe und nicht die Zuschreibungen der Erwachsenen. Sicherlich empfindet der Säugling eine Unterscheidung zwischen Wohlsein oder Unwohlsein.
Durch das Ausdifferenzieren des inneren Systems, also zu verstehen, wie die Dinge um mich herum funktionieren, gelange ich irgendwann an den Punkt, eine Vorstellung davon zu entwickeln, was, um bei dem Beispiel zu bleiben, ein Tag an Zeiträumen mit sich bringt, worin sich diese unterscheiden bzw. dass es einen Tageskreislauf gibt und Tage sich in ihrer Form wiederholen. Dafür langt es nicht einfach, in der Natur zu sein, es langt nicht das „bloße“ Erfahren von Sinneseindrücken. Denn eine innere Ordnung entsteht auf der Grundlage persönlicher Bedeutungsbeimessung. „Die Welt wird erfahren und in einen mit (Bezugs-) Personen abgeglichenen Bedeutungskontext eingebunden“ (Kammerlander et al. 2018, S. 14f.). Es ist also ein Abgleich der Sinneseindrücke über Kommunikation nötig. An dieser Stelle sind Sie nicht nur Gesprächspartner*innen, sondern Impulsgeber*innen. Und für die richtigen Impulse braucht es die richtige Brille.
Der Naturraum liefert Ihnen dafür unendlich viele Gesprächsanlässe, um mit den Kindern die Welt ganz grundlegend zu erfahren. So können sich die Kinder mit Ihnen zusammen nicht nur auf den Weg machen, zu erfahren, was ein Tag ist, sondern sie können Erfahrungen machen, die dabei helfen, sich erste zaghafte Vorstellungen von Zeit aufzubauen. Nach und nach entwickelt jedes Kind weitere Vorstellungen darüber, was eine Woche, was ein Monat oder ein Jahr ist. Nach der Kita-Zeit sollte jedes Kind eine Idee von Zeit haben, ohne dass diese völlig ausgereift oder korrekt sein muss. Sie als Pädagoge können genau an dieser Stelle auch die Naturraumpädagogik nutzen. Denn „Natur stellt für Kinder einen maßgeschneiderten Entwicklungsraum dar. Eine Erfahrungswelt, die genau auf die Bedürfnisse von Weltentdeckern zugeschnitten ist. Hier können sie Segel setzen. Hier bläst der Wind, den sie für ihr Gedeihen brauchen. […] Hier können sie an ihrem Fundament bauen. Zeit in der Natur ist Entwicklungszeit!” (Renz-Polster und Hüther, 2019, S. 35).
Viel Spaß da draußen wünscht Ihnen
Yves Wilhelm
Literatur
Kammerlander, Carola; Rehn, Marcus; Pädagogischer Leitungskreis der element-i Kinderhäuser (2018): Pädagogische Konzeption für die element-i Kinderhäuser. Stuttgart.
Kron, Anna-Lena (2020): Natur(raum) erfahren! Fach-Newsletter des Pädagogischen Leitungskreises, Ausgabe 12, Stuttgart, S. 5-6.
Renz-Polster, Herbert; Hüther, Gerald (2019): Wie Kinder heute wachsen: Natur als Entwicklungsraum. Ein neuer Blick auf das kindliche Lernen, Fühlen und Denken. Beltz: Weinheim.