Rund 23 % aller 3- bis 6-jährigen Kinder sprechen in ihrer Familie eine andere Sprache als Deutsch. Manche dieser Kinder nutzen sogar drei oder mehr Sprachen (Mediendienst Integration 2022). Die Zahlen zeigen uns Häufigkeiten und Durchschnittswerte. Sie verraten nicht, wie vielfältig sich Mehrsprachigkeit im Alltag der Kinder zeigt: So ist Amina seit ihrer Geburt mit zwei Sprachen – albanisch und deutsch – vertraut, Darijan ist mit 3 Jahren nach Deutschland gekommen und erwirbt die deutsche Sprache neben seiner Erstsprache Kroatisch. Rui spricht zu Hause chinesisch und französisch, in der Kita englisch und deutsch. Sie switcht scheinbar gekonnt in den Sprachen, je nach Gesprächspartner:in. Wie auch immer der Kontext sein mag, eines ist gewiss: Jedes Kind – ob mehr- oder einsprachig – braucht in der Kita eine professionelle sprachliche Bildung: liebevoll zugewandt, alle Sprachen der Kinder wertschätzend und von fachlich geschultem Personal begleitet.
Wer ist denn mehrsprachig? Und ab wann?
Zu dieser Frage hat die Fachwelt unterschiedliche Antworten gefunden und Definitionen formuliert. Kaum jemand von uns würde sich nicht als mehrsprachig bezeichnen. Selbst jemand, der in einem Kulturkreis mit Dialekt und Hochdeutsch aufwächst, gilt als mehrsprachig. Daher muss der Rahmen weit gefasst werden; es geht bei Mehrsprachigkeit eher um eine kommunikative Kompetenz als um das Bilden von korrekten Sätzen:
„Mehrsprachigkeit wird als eine kommunikative Kompetenz verstanden, zu der alle Sprachkenntnisse und Spracherfahrungen beitragen und in der die Sprachen miteinander in Beziehung stehen und interagieren. In verschiedenen Situationen können Menschen flexibel auf verschiedene Teile dieser Kompetenz zurückgreifen, um eine effektive Kommunikation mit einem bestimmten Gesprächspartner zu erreichen.“ (Schmidt 2018, 26, zitiert den Conseil de l ́Europe 2001)
Die Unterteilung in simultanen und sukzessiven Spracherwerb wird gern herangezogen, um grundlegende Unterschiede bezüglich des Spracherwerbs zu beschreiben. Von simultanem oder frühem Spracherwerb spricht man, wenn ein Kind zwei Sprachen ab der Geburt oder vor dem Alter von 2-3 Jahren kennenlernt. Ein sukzessiver oder später Spracherwerb ist gegeben, wenn ein Kind die zweite Sprache nach dem 3. Geburtstag erwirbt (Scharff-Rethfeldt 2013, S. 24). Hilft die Unterscheidung im Kita-Alltag?
Worauf es wirklich ankommt
Wenn Erwachsene Sprechfreude zeigen, mit Kindern auf Augenhöhe und dialogisch in Interaktion treten und Kinder Zeit zum Sprechen und Sich-Ausdrücken bekommen, sind bereits gute Grundlagen, auch für den Erwerb der Zweitsprache Deutsch, geschaffen. Kinder mit anderen Erstsprachen benötigen – neben der erwähnten Wertschätzung ihrer Erstsprachen – ein Kita-Umfeld, in dem sie häufig mit der deutschen Sprache in Kontakt kommen und gute Sprachvorbilder erleben. Es braucht also viel Input, und dieser Input sollte an vielen Tagen in der Woche ermöglicht werden. Alle Routinen im Alltag sind für sprachliche Bildung nutzbar: Von der Begrüßung morgens über Mahlzeiten, Kinderkonferenz und Impuls, Singkreis, Freispiel bis hin zum Vor- und dialogischen Lesen.
Sprachförderlich ist beispielsweise das handlungsbegleitende Sprechen. Dabei werden die eigenen Handlungen – beim Wickeln, beim Essen, beim Umziehen – genutzt. In diesen Standardsituationen werden alltägliche Wörter wieder und wieder benutzt – in etwa: „Ich ziehe dir zuerst die Schuhe aus, dann die Matschhose, die Mütze, die Jacke …“ Oder der Erwachsene beschreibt die Handlungen des Kindes, z.B. beim Essen: „Der Jonas nimmt sich heute zuerst Nudeln. Er ist heute Tischkönig. Danach ist Mia an der Reihe …“ Achten Sie dabei bitte darauf, in vollständigen Sätzen zu sprechen. Es ist erstaunlich, wie viele Silben wir Erwachsenen nicht sorgfältig artikulieren. „Wir geh´n in n´Garten“, „Bitte die Stifte ins Regal räumen.“, „Was is´n da in der Schüssel?“ Um die eigene Sprache genauer unter die Lupe zu nehmen, lohnt es sich, sich in einer Situation, bei der Kinderkonferenz oder beim Essen, zu reflektieren und kleine Herausforderungen für den Alltag zu schaffen: „Diese Woche konzentriere ich mich darauf, mit jedem Kind jeden Tag mehrere Sätze zu sprechen.“ Filmsequenzen sind besonders hilfreich dabei zu entdecken, was Sie als Pädagog:in gut beherrschen und an welchen Stellen Sie sich entwickeln können.
Pädagogische Fachkräfte sorgen jedoch nicht nur für qualitativ hochwertigen Input. Sie gehen idealerweise mit den Kindern auf eine Höhe bzw. suchen aktiv den Blickkontakt und lassen ihnen Zeit für Antworten. So kann ein authentischer Austausch mit den Kindern entstehen. Der Erwachsene hört zu, welche Wörter oder Sätze ein Kind produzieren kann und welche Unterstützung hilfreich ist. Oder der Erwachsene begünstigt Gespräche unter Kindern. Wie beim Lernen allgemein spielen auch beim Sprachenerwerb die anderen Kinder, die so genannten Peers, eine wichtige Rolle.
OPOL, Translanguaging – wie bitte?
Das Prinzip one person – one language ist weit verbreitet. Es ist hilfreich, wenn die mit dem Kind interagierenden Personen bei ihrer eigenen Erstsprache bleiben. Das hilft dem Kind, den entsprechenden Wortschatz aufzubauen und die Regeln dieser Sprache im Alltag zu erwerben. Lässt sich das in der Praxis durchhalten? Eine dogmatische Regelung sollte es nicht sein. Selbst wenn der Vater zu Hause nur französisch mit dem Kind spricht, die Mutter spanisch, so erlebt das Kind beide Eltern in anderen Kontexten. In der Kita oder beim Einkaufen sprechen Vater und/oder Mutter deutsch. Und kein Kind ist überfordert, dass Menschen in unterschiedlichen Kontexten eine ihrer Sprachen oder vielleicht sogar einen Mix nutzen.
Dazu ein Beispiel: Zoe und Lilly sind zweisprachig aufgewachsen. Die Mutter spricht deutsch mit ihnen, sie besuchen die deutsche Schule, der Vater und viele Freund:innen sprechen spanisch. Die Familie lebt im Norden Spaniens. Daher können die Kinder auch katalanisch. In der Schule kam englisch dazu. Die beiden Schwestern sprechen weiterhin mit der Mutter deutsch, mit dem Vater spanisch. Untereinander jedoch mixen sie aus den vier Sprachen, die ihnen zu Verfügung stellen. Das Beispiel zeigt, wie gut die eingangs zitierte Definition zur Mehrsprachigkeit auf die beiden passt. Sie sind zwar in der Lage, in allen Sprachen exklusiv zu sprechen. Sie gebrauchen jedoch ihre Kompetenzen kreativ, um sich in einem ihnen angemessenen Tempo zu verständigen. Und das geht manchmal leichter, wenn alle Sprachregister genutzt werden – also wenn translingual gesprochen wird.
Grundsätzlich ist opol ein sinnvoller Ansatz. Das Prinzip findet auch in den zweisprachigen element-i Kinderhäusern seinen Platz. Unsere Native Speaker kommunizieren möglichst in ihrer Erstsprache. Nur in Ausnahmefällen wechseln sie in die deutsche Sprache. Somit erleben die Kinder die Fachkräfte als authentisches Sprachvorbild.
Welchen Stolpersteinen begegnen Fachkräfte häufig?
Wie im Spracherwerb bei einsprachigen Kindern, so gilt auch bei mehrsprachigen: So manche Regel, die ein Kind kennenlernt, wird nicht in allen Situationen sicher genutzt bzw. übergeneralisiert. Kinder lernen z.B. das Perfekt mit regelmäßigen Verben recht schnell: „Ich habe gemacht, gemalt, gelacht.“ Die Regel für die Bildung des Partizips wird gern auf unregelmäßige Verben übertragen (Prozess der Assimilation). Und so entstehen Sätze wie: „ich habe den Teller getragt, mir die Hände gewascht.“ Durch korrektives Feedback und viele Sprechanlässe bekommen die Kinder die Möglichkeit, die bekannten Regeln zu verfeinern und für unregelmäßige Verben zu erweitern. Bald haben Kinder ihr Regelwerk angepasst (Prozess der Akkomodation) und können die korrekte Form bilden: „Ich habe gewaschen, getragen, gegessen.“ Weitere typische Stolpersteine für Kinder mit anderen Zweitsprachen sind:
- Artikel werden weggelassen oder falsch genutzt – etwa „Das Hund ist braun.“
- Verben werden nicht konjugiert und im Infinitiv gebraucht – etwa „Ich gehen Schwimmbad.“
- Die Hilfsverben werden vertauscht – etwa „Ich habe gegangen.“
Was auch immer Ihnen an grammatikalischen Eigenkreationen auffällt, schauen Sie auch darauf, welche Leistung die Kinder vollbringen. Sie erschließen sich nach und nach die Wörter und die Grammatik einer zweiten Sprache neben ihrer Erstsprache. Das ist eine unglaubliche Leistung, die pädagogisch mit Wohlwollen begleitet werden sollte. Und wenn es die Situation zulässt, wiederholen Sie den Satz einfach so, wie er richtig gebildet werden sollte (korrektives Feedback). Die Meilensteine des Spracherwerbs sind übrigens bei mehrsprachigen Kindern nicht grundsätzlich andere als bei monolingual aufwachsenden.
Wie sinnvoll ist eine Sprachstandserhebung?
In den letzten 25 Jahren wurden zahlreiche Beobachtungsinstrumente zur Sprachstandserhebung entwickelt und auf den Markt gebracht. Die PH Schwäbisch Gmünd hat in einem eigens entwickelten Verfahren und unter Verwendung von zahlreichen Kriterien die beiden folgenden Instrumente als besonders passgenau herausgefiltert: Der BaSiK (siehe Kasten) auf der einen Seite und die Kombination von sismik, seldak und liesb auf der anderen Seite haben im Prüfverfahren besonders gut abschnitten (Faas et al. 2021, S. 22). Demnach sind sie auch für die Praxis in Kitas empfehlenswert. In den element-i Kinderhäuser in Bayern und Nordrhein-Westfalen besteht die Verpflichtung, ein Instrument zur Sprachstandserhebung zu nutzen.
Die Instrumente zeichnen sich durch ihren hohen praktischen Nutzen aus. Die alltäglichen Beobachtungen fließen mit ein wenig Übung in die Bögen ein. Und so entwickelt sich aus dem Bauchgefühl bzgl. des Sprachstandes eines Kindes ein transparentes Wissen. Ein Wissen, das gezielte sprachliche Bildungsimpulse ermöglicht. Wenn die Fachkraft weiß, dass das Kind die Artikel im Deutschen noch nicht sicher verwendet, ist die Zielrichtung für den gezielten sprachlichen Input klar: Ob mit Sprachkarten oder bei allen Routinen im Alltag können Begriffe leicht benannt werden, handlungsbegleitendes Sprechen, Wiederholungen, Erweiterungen und korrektives Feedback helfen dem Kind auf dem Weg, einem Substantiv den richtigen Artikel zuzuordnen.
Die Instrumente können während der gesamten Kita-Zeit verwendet werden und wachsen mit dem Kind mit. Für die Fachkraft wird damit Jahr für Jahr sichtbar, wie die Entwicklung des Kindes über die Kita-Zeit verläuft und welche Entwicklungsschritte das Kind gegangen ist. Die Kita leistet damit einen wichtigen Beitrag zur Teilhabe in der nächsten Bildungsinstitution.
Fazit
Die eigene Sprechfreude ist sicherlich eine Voraussetzung für die sprachliche Bildung der Kinder. Jedoch lernen Kinder nur eine Sprache, wenn sie täglich viele Gelegenheiten haben, sich auszuprobieren und Sprache zu produzieren. Daher sind Pädagog:innen gut beraten, wenn sie sich in den passenden Momenten zurücknehmen und Kindern Zeit viel zum Sprechen gewähren. Denn eine Sprache lernt jedes Kind letztlich nur durch Sprechen.
Literatur
Atkas, Maren; Asbrock, Doreen; Frevert, Sabine; von Lehmden, Friederike (2017): Hallo und merhaba! In: Kleinstkinder in Kita und Tagespflege (Themenheft). Herder: Freiburg i. Br., S. 28-33
Faas, Stephan; Götz, Alicia; Müller, Christiane (2021) Sprachstandsfeststellung, Sprachförderung und sprachliche Bildung. Abrufbar unter: https://mbjs.brandenburg.de/media_fast/6288/gutachten_kitarr_sprachstandsfeststellung%2C_sprachfoerderung_und_sprachliche_bildung.pdf (zuletzt aufgerufen am 25.1.2023)
Mediendienst Integration (Mai 2022): Wie viele Kinder sind mehrsprachig? Abrufbar unter: https://mediendienst-integration.de/integration/mehrsprachigkeit.html (zuletzt aufgerufen am 25.1.2023)
Scharff-Rethfeldt, Wiebke (2013): Kindliche Mehrsprachigkeit. Grundlagen und Praxis der sprachtherapeutischen Intervention. Stuttgart/New York: Thieme
Schmidt, Marc (2018): Kinder in der Kita mehrsprachig fördern. München/Basel: Ernst Reinhardt