„Die Freiheit des Einzelnen endet dort, wo die Freiheit des Anderen beginnt.“
Immanuel Kant (724-1804)
„Gisi, könntest du mal …?“, „Gisi, würde es dir was ausmachen, wenn …?“, „Gisi, erledigst du bitte noch …?“ – Und Gisi antwortet auf jede Frage mit „ja“. Warum macht sie das? Man könnte vermuten, dass Gisi freundlich ist oder altruistisch veranlagt. Vielleicht kann oder mag sie einfach nicht „nein“ sagen. Herbert geht anders vor: „Also, die andere Haarfarbe stand dir ja besser…“, „Na deine Hose sitzt schon etwas spack.“ Herbert, könnte man mutmaßen, ist einfach sehr direkt. Nimmt kein Blatt vor den Mund. Redet Tacheles. Gisi und Herbert haben etwas gemeinsam – beide haben ein Thema mit Grenzen. Gisi hat nie gelernt, welche zu setzen und deutlich zu zeigen, wenn es ihr zu viel wird, sie überfordert ist oder einfach nicht die Wünsche anderer bedienen möchte. Herbert wiederum hat nie gelernt, die Grenzen anderer wahrzunehmen.
Was braucht es, um zu erkennen, dass uns schon Babys und Kleinkinder ihre Grenzen zeigen? Wie zeigen so junge Menschen ihre Grenzen? Wie zeigen ältere Kinder ihre Grenzen? Welche Möglichkeiten haben wir, Kindern unsere Grenzen zu zeigen, ohne auf Verbote oder Gebote zurückgreifen zu müssen?
Physische Grenzen wahren
Der ein oder andere kennt noch den Film „Dirty Dancing“ – hier ist von Tanzbereichen die Rede, dass jeder einen Bereich hat, in den der andere während des Tanzes nicht einzudringen hat. Man kann es sich vorstellen wie eine unsichtbare Blase, die jeden von uns umhüllt. Kommt uns jemand zu nahe, fühlen wir uns bedängt, es bringt uns regelrecht aus dem Konzept. Je näher uns ein Mensch steht, umso geringer wird dieser Bereich sein müssen. Bei guten Freunden reicht oftmals eine Distanz von 60 cm, bei Vorgesetzen oder im Verkauf ist es das Doppelte, 120 cm (vgl. VBG 2023).
Babys und Kleinkinder können schon nonverbal sehr deutlich zeigen, wenn sie keine körperliche Nähe wollen. Sei beenden den Blickkontakt, weichen ihm von vorneherein aus, wenden den Kopf ab oder beginnen sogar zu weinen. Sind die Kinder etwas älter und schon mobiler, lehnen sie sich zurück, krabbeln davon, drücken sich mit den Händen vom Erwachsenen weg, um eine physische Distanz aufzubauen.
Kinder im Kindergartenalter zeigen, dass ihre körperliche Grenze erreicht ist, indem sie weglaufen, sich wegdrehen, verstecken, aber unter Umständen auch erstarren oder verstummen, auf den Lippen herumbeißen oder andere Stresszeichen zeigen (vgl. Wedewart/Hohmann 2021, S. 74f).
Wie schnell kindliche Grenzen überschritten sind, zeigen Beispiele aus jedem Kita-Alltag: Da wird einem Kind kurz im Vorbeigehen die heruntergerutschte Hose wieder hochgezogen, die laufende Nase – ohne zu fragen – geputzt. Ein Tätscheln hier, ein lieb gemeintes Knuffen da. Gehen wir davon aus, dass diese unsichtbare Blase um einen Menschen nicht erst im Verlauf des Lebens wächst, sondern von Anfang an da ist, müssen wir Fachkräfte uns genau überlegen, wann und wie wir in diesen Bereich eindringen.
Zuallererst kann man sich fragen, wen hier eigentlich was stört. Kann ich es als Erwachsener nicht sehen, dass das Kind unordentlich rumläuft? Wenn man bemerkt, dass das Kind immer wieder über seine Hose stolpert, haben begleitende Erwachsene – unter Wahrung der Grenze des Kindes – die Möglichkeit, mit dem Kind ins Gespräch zu gehen: „Ich habe bemerkt, dass du immer wieder über deine Hose stolperst. Wie kann das denn sein? Was denkst du?“ So könnten Sie gemeinsam mit dem Kind überlegen, wie Abhilfe geschaffen wird. Eventuell schlägt das Kind vor, einen Gürtel mitzubringen. Oder Sie einigen sich mit dem Kind, den Gummizug in der Hose enger zu machen und bieten dafür Ihre Hilfe an. Vielleicht klären Sie mit dem Kind, ob bei der Wechselkleidung eine adäquate Alternative ist.
Psychische Grenzen respektieren
Bei den psychischen Grenzen ist es etwas diffiziler, sie entsprechend zu wahren. Diese zu entdecken erfordert Feingefühl und etwas mehr Zeit – welche wir in den Kitas für das einzelne Kind nicht immer zur Verfügung haben. Grundsätzlich sind Kinder fähig, ihre Grenzen und ihre Integrität zu wahren. So zeigen sie deutlich, was sie verärgert, wenn sie sich ungerecht behandelt fühlen oder Ausgrenzung passiert. Hier braucht es feinfühlige Fachkräfte, welche dies erkennen und achten (vgl. Wedewart/ Hohmann 2021, S. 76).
Ein Ansatzpunkt kann darin liegen, die Kinder in ihrem Autonomiebestreben zu fördern und Hilfestellung zu geben, sich gegenüber anderen abzugrenzen. Dabei geht es nicht nur darum, Kinder um Erlaubnis zu bitten. Vielmehr sollten auch Momente, in denen Kleinkinder durch die oben genannten Signale ihre momentane Ablehnung zeigen, nicht mit einem „aber dann bin ich ganz traurig“ quittiert werden. Gerade Kleinkinder wollen gefallen – den eigenen Eltern und auch den Bezugspersonen in Krippe und Kita. Dahinter verbirgt sich der Wunsch nach einer intakten Beziehung, der Wunsch nach Verbundenheit. Nehmen die jungen Kinder nun wahr, dass es nicht einvernehmlich zugeht, befürchten sie einen Bruch in der Beziehung. Die Angst, verlassen zu werden, nimmt Überhand (vgl. Röhr 2022, S. 16, 19). Schlimmer noch ist es, zwar als Erwachsener eine Erlaubnis erbeten zu haben und nach Absage des Kindes so zu agieren, als hätte man ein „OK“ bekommen.
Als Fachkraft hat man die Möglichkeit mit gutem Beispiel voranzugehen und die eigenen Grenzen zu benennen und dabei Kindern mitzuteilen, was einen beschämt oder kränkt. So zeigen Erwachsene Kindern, wie man seine Integrität im Zusammenleben mit anderen wahrt und nicht, wie man bestmöglich kooperiert. Im Alltag könnte das bedeuten, dass Gisi gegenüber ihren Kollegen auf die Frage, ob sie noch etwas übernehmen könnte, antwortet: „Das mache ich gerne nächste Woche. Diese Woche habe ich dafür keine Zeit mehr.“ Oder dass man Herbert auf seine Rückmeldung freundlich, aber bestimmt antwortet: „Das mag deine Ansicht sein. Ich gefalle mir so, wie ich bin.“
Literatur
Wedewardt, L., Hohmann, K. (2021): Kinder achtsam und bedarfsorientiert begleiten in Krippe, Kita und Kindertagespflege. Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2021
Röhr, H.-P. (2022): Was habe ich davon? Psychologie Heute, Beltz, 49. Jahrgang, Heft 2, S. 19ff.
VBG – Ihre gesetzliche Unfallversicherung (2023): Körpersprache und Distanzzonen. Abrufbar unter:
https://www.vbg.de/wbt/gewaltpraevention/daten/html/437.htm (zuletzt aufgerufen am 10.01.2023)