„Wir“: Ein Selbstporträt-Impuls im Kinderhaus Reinsburg

Bekanntes neu sehen: Im Kinderhaus Reinsburg schauen sich einige Kinder im Spiegel an und zeichnen Selbstporträts – mit spannendem Ergebnis. Plötzlich sind Details auf den Bildern zu sehen, die die Kinder vorher nie wahrgenommen hatten. Autor: Orkan Tan

Ich bin Künstler und als Quereinsteiger im element-i Kinderhaus Reinsburg in Stuttgart tätig. Ich liebe die Arbeit als Erzieher: Die Kinder sind ehrlich und direkt. Sie hinterfragen, was wir Erwachsenen als selbstverständlich ansehen und bringen uns auf ganz neue Weise zum Nachdenken. Neulich wollte ein Junge wissen, warum ich so viele Haare unten am Gesicht aber keine auf dem Kopf hätte. Diese Frage löst eine Diskussion aus, an der sich einige Kinder beteiligen. Wir sprechen über Haare und Bärte sowie darüber, wie unterschiedlich Menschen aussehen.

In den Spiegel schauen

Das Interesse der Kinder habe ich anschließend aufgegriffen. Alle, die mitmachen wollten, sind mit mir ins Atelier gegangen, und wir haben uns selbst gemalt. Doch wie soll das gehen? Ein Junge schlägt vor, dass wir uns einfach gegenseitig fotografieren. Ein Mädchen kommt auf die Idee, einen Spiegel zu holen. Und genau das tun wird dann auch.

Wer bin ich?

Als wir uns im Spiegel betrachten, fallen den Kindern zunächst Augen und Mund, dann Nase und Ohren auf. Doch was ist das? Wir haben ja Wimpern und Augenbrauen! Diese Details hatten die Kinder bislang völlig übersehen. Dass sich die Farbe ihrer Haut, ihrer Haare und ihrer Augen voneinander unterscheidet, ist für sie ebenfalls neu und spannend.

Kopf ohne Körper?

Interessiert beobachte ich, wie sie sich anschließend selbst malen. Ich hatte vorgeschlagen, dass wir klassische Selbstporträts anfertigen, auf denen nur Kopf und Oberkörper zu sehen sind. Nicht allen Kindern behagt das. Ein Mädchen vervollständigt ihr Bild, indem sie an den großen Kopf noch einen vergleichsweise kleinen Körper anfügt. Andere beginnen nach dem Porträt-Kopf direkt ein weiteres Bild, das ihren Körper komplett zeigt.

Neue Details in den Bildern

Auffällig ist, wie detailliert die meisten Kinder ihr Gesicht zeichnen. Auf einigen der Bilder entdecke ich Wimpern, Augenbrauen und sogar Augenlieder. Auch die Hautfarben variieren von Rosa bis Dunkelbraun: Die Kinder haben genau geschaut, welche Farbe ihrer eigenen Haut am besten entspricht. Das ist ebenfalls neu!

Eine Chance auch für Erwachsene

Wenn wir uns zusammen mit Kindern auf Entdeckungsreise begeben, erfahren auch wir Erwachsenen viel Neues, denn es geht uns genauso wie den Kindern: Wir haben Sehgewohnheiten entwickelt und nehmen nur das wahr, was wir immer wahrnehmen. Einmal neu und unvoreingenommen auf scheinbar Bekanntes zu schauen, kann auch für uns eine Offenbarung sein. Daher wirkt die Zusammenarbeit mit den Kindern bei mir auch stark auf meine Kunst zurück.

„Wir“ heißt unsere Ausstellung

Mit unseren Bildern machen wir anschließend noch eine kleine Ausstellung. Sie hat sogar einen Titel bekommen. „Wir“, meinen die Kinder, sei ein guter Name. Er gefällt mir sehr, denn mir kommt es darauf an, nicht nur die Unterschiede zu betonen. Daher frage ich „Was haben wir denn alle gemeinsam?“. Die Kinder wissen direkt, worauf ich hinauswill und antworten: „Wir sind alle Menschen“.

Ein positives Selbstbild fördern

Jedes Kind soll in der Kita erleben, dass es dazugehört und ein wichtiger Teil der Gruppe ist. „Wir sind ein Team!“ ist daher unser Motto. In meiner Kindheit habe ich ein solches Zusammengehörigkeitsgefühl vermisst. Ich fühlte mich oft als Außenseiter und nicht gesehen. Meine Vision ist eine Gesellschaft, die Vielfalt wertschätzt, alle einschließt und trotz aller Unterschiede – die ja manchmal auch das gegenseitige Verständnis erschweren – Gemeinschaft lebt.

Orkan Tan

Orkan Tan

Weitere Informationen:

Die Kita-Fachzeitschrift „Betrifft Kinder“ berichtete in Heft 9-10/2023 ebenfalls über den Selbstporträt-Impuls. Auf der Konzept-e Website gibt es den Beitrag zum Herunterladen. Welche Erfahrungen Orkan Tan sonst noch in seinem Quereinstieg sammeln konnte, lesen Sie in diesem Interview im FDFP-Magazin.

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